Eine interessante Frage, über die ich auch schon nachgedacht und für mich meine eigene Antwort gefunden habe. Ich bin dann manchmal provokativ und sage auf die Frage, warum psychische Erkrankungen heute offensichtlich schlimmer geworden sind: "Die Leute haben heute einfach zu viel Zeit!"
Damit meine ich: schau dich in Naturvölkern um, die irgendwo abgelegen vom Fortschritt und unserer industriellen, schnellen Welt leben: ich behaupte einfach, dass die Menschen dort aufgrund der sehr klaren Strukur ihres Lebens und Alltags, sowie der Beschäftigung mit den wirklich grundlegenden Dingen des Lebens (Nahrungsbeschaffung, Überleben) so beschäftigt sind, dass sie keine Zeit haben sich über alles den Kopf zu zerbrechen. Dazu kommt, dass sie in einer sehr simplen Gesellschaftshierarchie leben, in denen die Rollen einfach nicht hinterfragt bestehen: Mann oder Frau, Jäger oder Sammler, Bauer oder Hirte, Chef oder nicht Chef. Wir leben hier in einer Welt, in der all dieses klaren Strukturen zerissen sind! Früher warst du Bauer oder Adeliger. Das war einfach so und wurde nicht hinterfragt. Heute gibt es so viele Strukturen, in denen wir sein wollen oder müssen. Michael Mary schreibt in seinem Buch "Ab auf die Couch" (das ich übrigens großartig finde!) dazu:
Zitat: "Wer zu jener Zeit beispielsweise Bauer oder Bürger war, der war das immer und überall, zu jeder Tages- und Nachtzeit, mit Haut und Haaren, durch und durch. Er war das auf dem Dorfplatz, im Gerichtssaal, im Krieg oder Frieden, auf Reisen oder in der Stadt, im Bett oder am Tisch. Die Gesellschaft hatte ihm einen dem Stand, in den er hineingeboren wurde, entsprechenden Mantel umgehängt und ihm erklärt: »Das bist du!« Der Einzelne war mit einer festen, verlässlichen und bestimmten Identität ausgestattet, aus der es für ihn kein Entkommen gab. Es handelte sich dabei jedoch nicht um eine individuelle, sondern um eine Gruppenidentität. Man war »Ich, der Bauer« oder »Ich, der Bürger« und nicht »Ich, der Georg« oder »Ich, die Lisa«."
Natürlich hatten die Menschen auch damals psychische Probleme, aber eben nicht in dieser individuellen Komplexität wie heute, weil einfach die hierarchische Gesellschaft so wenig Raum für Individualität bot (Heute kann man z.B. seit kurzem bei Facebook USA zwischen 50 verschiedenen Geschlechtsidentitäten wählen.). Damals reichte der Priester und Heiler, die Mystiker oder die Poeten.
Michael Mary dazu:
Zitat:Sie verfügten über erprobte Mittel, um eine unter damaligen Umständen verlorene Orientierung oder angegriffene Identität, um ein ins Wanken geratenes Ich wieder auf die richtige Spur zu bringen. Sei es Gottes Wort oder ein magischer Spruch, oder sie warfen Knochen oder erzählten Geschichten und schrieben Lieder und Gedichte. Half das nicht, um jemanden zurück auf seinen ihm zugewiesenen Platz zu bringen, hielt die Rechtsprechung andere, brachiale Mittel bereit, um Ausbrecher zurück in ihre Identität zu zwängen.
Das ist heute anders: unsere Gesellschaft splittet sich in unsäglich viele Bereiche auf: Erziehungsbereiche, kirchliche Bereiche, Freizeitbereiche, Finanzbereiche, Arbeitsbereiche, Freundschaftsbereiche, Gesundheitsbereiche, etc., die sich alle noch einmal in Unterbereiche aufgliedern. Michael Mary vergleicht unser heutiges Gesellschaftssystem mit einem Puzzle aus unzähligen Teilen, in denen der einzelne sich immer schlechte definieren kann und unsere Identität aus vielen unterschiedliche Ichs bestehst. Die Gruppenidentität ist aufgehoben und von den Menschen wir heute ein hohes Maß (vor allem psychischer) Flexibilität gefordert.
Abschließend schreibt Michael Mary zu diesem Problem:
Zitat:"Psychische Probleme markieren Verwirrungen im Karussell ständiger Identitätswechsel, sie stellen keinesfalls per se Erkrankungen dar. Vielmehr gehören sie zum Leben in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft. Sie gehören zu einer Welt, in der ein Einzelner wiederholt mit der Notwendigkeit konfrontiert ist, sich neu zu orientieren, ja sogar, sich neu zu bestimmen und zu erklären, wer er ›momentan‹ oder ›unter diesen Umständen‹ ist und wer er zukünftig zu sein gedenkt. Psychische Probleme gehören zu einer Welt, die kaum mehr richtig und falsch vorgibt, die unterschiedlichste Lebensformen akzeptiert, die nicht eine, sondern zahlreiche Beziehungsformen toleriert, die den Einzelnen nicht mit verlässlichen Vorgaben versorgt und stattdessen unzählige Lösungen zulässt."
So, habe fertig! Und wer bis hier aufmerksam beim Lesen durchgehalten hat, dem spende ich echt Beifall! Vielen Dank fürs Lesen und liebe Grüße,
Asja