"Verloren in der Schule. Wie wir herausfordernden Kindern helfen können".
Autor: Ross W. Greene, Hogrefe, 363 Seiten
Mein Tipp: für PB, HPP, Lerncoaches und vermutlich auch HP interessant.
Meine Rezension:
Irgendwann ist er in Mode gekommen, dieser Ausdruck. Arschlochkind. So in Mode, dass er auch von ErzieherInnen und LehrerInnen verwendet wird. Anstrengend, nervig, aufsässig, checkt nix? Arschlochkind eben. Zack, Label drauf, Schublade zu.
Ganz ehrlich: Das ist gruselig. Niemand möchte ein Kind haben, das so tituliert wird, niemand möchte ein solches Kind in der Kitagruppe oder Klasse haben. Und vor allem möchte niemand von uns Arschlochmensch genannt werden. Grund genug, mehr als dankbar für Pädagogen wie Ross W. Greene zu sein. Der hat einen Ansatz erfunden, um verhaltensauffällige Kinder verstehen und ihnen helfen zu können: Kollaborative und Proaktive Lösungen (KPL). Und allen, die jetzt schon skeptisch sind, sei gesagt: Sein Ansatz basiert auf Erkenntnissen der Neurowissenschaften, hat also Hand und Fuß.
Bislang war eine Meinung weitverbreitet: "Kinder machen ihre Sache gut, wenn sie wollen." Und wenn es seine Sache nicht gut macht - ist es dann eine logische Schlussfolgerung, dass das Kind einfach nicht will? Ist es einfach ein A-lochkind?
Bisher galt/gilt für die meisten Eltern/ErzieherInnen/LehrerInnen, in diesem Fall müssen sie das Kind irgendwie und koste es, was es wolle, dazu bringen, seine Sache gut machen zu wollen. Also muss das Kind motiviert werden. Man versucht, einen Anreiz für gute Leistungen zu schaffen. Das Kind für angemessenes Verhalten zu belohnen und für unangemessenes Verhalten zu bestrafen.
Das geht oft, wenn nicht meistens, schief. Greene nennt Zahlen, die zwar aus Amerika stammen, gleichwohl aber schockieren: "Noch immer werden in den Vereinigten Staaten an den staatlichen Grund- und weiterführenden Schulen jedes Jahr sage und schreibe 230000 Schläge ausgeteilt, 110000 Schulverweise erteilt und drei Millionen Suspendierungen verhängt, abgesehen von zig Millionen Fällen von Nachsitzen." Die Häfte der Lehrer in Amerika gibt laut Greene ihren Beruf innerhalb der ersten vier Jahre auf; einer der Hauptgründe: verhaltensauffällige Kinder und ihre Eltern!
Greene hingegen ist der Annahme, dass ein Kind seine Sache gut machen würde, wenn es denn nur könnte. Seine Schlussfolgerung: Macht ein Kind seine Sache nicht gut, dann deswegen, weil ihm die Fertigkeiten dazu fehlen. Er widmet sich diesen Kompetenzdefiziten - und erklärt, warum viele vorschnelle Beurteilungen wie "er will uns nur manipulieren" oder "er will nur unsere Aufmerksamkeit" falsch sind.
Auf knapp 350 Seiten erklärt Greene mit Fallbeispielen, wie mit fordernden Kindern umgegangen und vor allem kommuniziert werden kann. Er lenkt das Bewusstsein auf Sprache und Stolpersteine. Das Buch liest sich leicht, die Argumentation ist schlüssig. Auch wenn Greenes Erkenntnisse durchaus wissenschaftlich fundiert sind, so ist das Buch doch auch für nichtstudierte Laien gut zu lesen und zu verstehen - etwa für Eltern.
Im Anhang dieser überarbeiteten Auflage findet sich ein Fragebogen zur Beurteilung von Kompetenzdefiziten und ungelösten Problemen. Der ist im Grunde klasse - aber leider so dermaßen klein gesetzt, dass er kaum lesbar ist. Das ist allerdings das einzige grobe Manko in diesem Buch.
Weiter findet sich im Anhang ein "Spickzettel für das Nachbohren". Da geht es um Gesprächsinterventionen - ein Muss gerade für LehrerInnen, aber, die Anmerkung sei erlaubt, eigentlich ein Muss für jeden Menschen mit Interesse an einer zielführenden, friedfertigen und freudvollen Kommunikation mit anderen Menschen jeden Alters. Kleine Anmerkung: SchülerInnen von Savina sind hier sehr gut aufgestellt!
Mein Fazit: Klare Leseempfehlung für ErzieherInnen, LehrerInnen, Lerncoaches und Eltern.
*Denn schlimmer als zu sterben ist es, nicht zu wissen, wofür man lebt.* (Gioconda Belli)