Gestern hatte ich ein spannendes Gespräch mit einer Fachärztin für Psychiatrie, die als forensische Psychiaterin in der Begutachtung Täter erlebt. Wir waren uns einig, dass es nicht nur uns als Fachleuten, sondern idealerweise allen in der Gesellschaft gut zu Gesicht stünde, nicht ständig und eilfertig zu (ver)urteilen. Dazu passt eine Buchkritik, die ich gerade geschrieben habe und die ich mit Euch teilen möchte.
Und ich würde es wieder tun, Raquel Erdtmann, Fischer, 255 Seiten, 14,99 Euro
Wie kann man nur? Das ist so schnell gesagt, machen wir fast alle andauernd. Beurteilen, und allzu oft verurteilen. Raquel Erdtmann kennt sich aus mit Be- und Verurteilen. Als Journalistin berichtet sie für eine große deutsche Tageszeitung aus den Gerichtssälen. In diesem Buch sind 32, laut Klappentext "spektakuläre Fälle" der Autorin zusammengetragen. 32 Geschichten, die unter die Haut gehen. Immer, sagt Erdtmann, gehe es ihr darum, "die passenden Worte für das Gefühl zu finden". Was sie im Gerichtssaal erlebt, sind tragische Schicksale, absurde Szenen und grausame Details. "Was ich dabei empfinde, ist egal", erklärt sie. Ihr komme es darauf an, dass Geschehen während der Verhandlungen so präzise wie möglich wiederzugeben, so wahrhaftig wie möglich zu schildern, "ohne Schmus und Gedöns, denn das sind echte Menschen". Sicherlich kann man dieses Buch lesen mit einem wohligen Grusel - ist ja anderen passiert, ein bisschen wie ein Hardcorekrimi im Fernsehen. Besser aber, man liest, was wahr ist: Erdtmann macht nämlich deutlich, wie wenig es manchmal braucht, um auf der Anklagebank zu landen.
(Hoffentlich nicht nur) für uns (HPP/As) ist das Buch besonders spannend, denn wir sehen, dass es Menschen gibt, die im Grunde nie eine Chance hatten, eine gute Resilienz zu entwickeln. Wie kann man nur... saufen und ein gutes Leben verkacken? Lest mal Erdtmanns Reportage "43 Jahre Leben". Mich hat es gerade zutiefst bewegt und erschüttert, Wort für Wort zu verfolgen, wie ein hochbegabtes Kind früh die Mutter verliert und unter der rigiden, lieblosen, gewalttätigen Fuchtel des Vaters tagtäglich um Anerkennung und ein anständiges Leben kämpft. Ein so schwerer Kampf, unvorstellbar fast für Menschen wie mich, die wir in unserer bunten Pippi-Langstrumpf-Welt leben. Und er scheitert, verliert den Kampf, landet auf der Anklagebank und im Knast.
Berührende Charakterstudien, eindrücklich in Worte gefasst von einer, die den Journalismus ehrt. Ein wirklich wunderbares Buch, das ich uneingeschränkt empfehle.
*Denn schlimmer als zu sterben ist es, nicht zu wissen, wofür man lebt.* (Gioconda Belli)