Das Kinderhaus von Alice Nelson, List HC, 314 Seiten, 18 Euro
Meine Rezi:
Warum wohl dieser wunderbare Roman unter anderem unter "Frauenunterhaltung" verschlagwortet ist? Alice Nelson hat mit "Das Kinderhaus" einen Roman vorgelegt, der vom ersten bis zum letzten Satz purer Genuss ist. Schöne Sätze reihen sich aneinander, so päzise und eindrücklich formuliert, dass man sie wieder und wieder lesen möchte. Dazu der Blick auf die westliche Gesellschaft, auf unsere Traumen, unsere Gefühlswelten - dieses Buch ist für Liebhaber guter Literatur ein Muss und schon jetzt zumindest einer der Höhepunkte, wenn nicht gar überhaupt der Höhepunkt des Jahres. Nelson ergeht sich nicht in seitenlangen Schilderungen von Sex und Crime. Ihre Geschichte von Liebe, Familie und Bindungen zieht ihre Faszination aus dem unbestechlichen Blick auf das menschliche Wesen, unser Miteinander, unsere hehren und ganz und gar nicht hehren Gefühle.
Kostprobe aus der Vielzahl der hinreißenden Formulierungen und bestechend genauen Beobachtungen gefällig?
"Marina wusste, dass er manchmal noch lange nach der Arbeit in der Praxis blieb. Dann legte er sich auf das Ledersofa, den Füße auf den Armlehnen, ein Buch auf dem Schoß. Er genoss es, nach dem vielen Reden die Stille im Raum zu spüren, hatte er ihr mal erzählt. Nachdem sein letzter Klient gegangen war, sagte er, dauerte es mindestens eine Stunde, bis das Echo der Stimmen des Tages verklungen und in seinem Kopf wieder Platz war." (Seite 18)
Oder: "Jacob meinte dazu, für ihn sei die Psychoanalyse nicht so sehr eine Wissenschaft, sondern eher eine Kunst, und die Abstraktionen und Gewissheiten der Wissenschaft stünden im Widerspruch zu der Komplexität des menschlichen Wesens. Er vertraute darauf, dass sein Unterbewusstsein ihm eine Idee gab, auf der sich eine Behandlung aufbauen ließ." (Seite 30)
Da finden wir uns doch wieder, oder? Ich mich jedenfalls definitiv! Auf jeden Fall habe ich dieses Buch in sorgsam aufgeteilten Häppchen genossen, und ich war traurig, als die letzten Worte gelesen waren.
*Denn schlimmer als zu sterben ist es, nicht zu wissen, wofür man lebt.* (Gioconda Belli)