Die zwölfte Raunacht - Die Nacht der Wunder, an welcher alles wieder gutgemacht werden kann.
Die letzte Nacht wird auch die Nacht der Wunder genannt. Deshalb möchte ich hier ein paar Gedanken der Frage widmen: Was genau ist eigentlich ein Wunder?
Ein Wunder ist zu aller erst etwas, daß wir vorher gar nicht erwartet hatten. Wir hatten in den vergangenen Raunächten (ganz besonders in der fünften Nacht) immer wieder uns im Loslassen geübt. Das Loslassen ist nicht leicht, aber es ist immerhin etwas, das in meiner Macht steht. Ich kann etwas dafür tun. Doch für ein Wunder kann ich nichts tun. Ich kann ein Wunder nicht herbei zwingen. Sehr oft sehnen wir uns in unserem Leben nach einem Wunder. Sehr gerne interpretieren wir in manche Ereignisse unseres Lebens diese Bezeichnung hinein, obwohl wir innen zwar vielleicht Dankbarkeit für etwas spüren, es uns aber nicht unbedingt unerwartet erreicht hat.
Ein Wunder kann nur geschehen, wenn ich nichts mehr erwarte. Doch hier liegt unser Problem: Wie könnte ich denn nur ohne jegliche Erwartungshaltung leben? Keine Angst: Das können wir nicht und müssen wir auch nicht können. Aber wir können uns dem großen Wunder namens Leben öffnen und beginnen zu sehen, wie uns jeden Tag eigentlich ein Wunder ereilt. Das erste Wunder jeden Tag ist, daß ich immer in den gleichen Körper, in das gleiche Leben aufwache. In gewissem Sinne ist dies eine Wiedergeburt, welche sich jeden Tag ereignet. Und es wird einmal der Tag kommen, wo sich dieses Wunder nicht mehr ereignen wird. Das nächste Wunder, welches mich ereilt, ist der erste und jeder nachfolgende Mensch, welchem ich an diesem Tag begegne. Welches Wunder ist es denn, daß mir jemand begegnet, mit dem ich mich austauschen kann? Daß mir jemand begegnet, der genauso eine Seele ist, mit einem komplexen Gefühlsleben - wie ich selbst auch. Und daß wir uns in dieser Begegnung etwas geben können. Vielleicht ist unsere Beziehung gerade nicht gut, vielleicht ist die Kommunikation zwischen uns gerade nicht gut, trotzdem geben wir uns gegenseitig etwas: Unsere Gegenwart und unsere Aufmerksamkeit. All dies ist ein Wunder.
Alles um uns herum lebt. Nicht nur die Menschen, die Tiere oder die Pflanzen, auch alle Gegenstände sind in einer stillen Kommunikation mit mir. Warum stürzt mein Computer immer genau dann ab, wenn ich es am wenigsten brauchen kann? Er will mir etwas zeigen. Warum schneide ich mir unabsichtlich den Finger mit dem Küchenmesser? Es will mir zeigen, daß ich unaufmerksam, vielleicht auch etwas zu schnell gewesen bin. Es ist meine Unaufmerksamkeit, die jedes Wunder an mir vorübergehen läßt. Um ein Wunder empfangen zu können, müssen wir uns zuerst öffnen, damit wir es überhaupt sehen können.
Und wenn wir über längere Zeit verabsäumen uns für dieses Wunder zu öffnen, welches uns immer umgibt, dann öffnet uns das Leben selbst. Meist durch das eine oder andere tragische Ereignis, welcher Art auch immer - Krankheit, Unfall, Verlust oder Tod. Dieses tragische Ereignis wird immer genau jene Sorte von Ereignis sein, durch welches ich in die Knie gezwungen werde und durch meine seelische Niederlage ich mich langsam beginne für die Welt zu öffnen. Und ich schließlich lerne Dankbarkeit zu empfinden für all das, welches ich vorher als selbstverständlich hinnahm.
Es gibt eine schöne Kurzgeschichte von Hermann Hesse mit dem Titel "Augustus". Es ist unter anderem in dem Buch mit dem Titel "Die Märchen" im Rowohlt Verlag zu finden. In dieser Kurzgeschichte geht es genau um diese Kernerfahrung unseres menschlichen Lebens. Daß wahres Glück nicht unbedingt heißt, immer zu gewinnen, sondern das Wunder auch im Allerkleinsten in unserer Umgebung zu sehen und mit Liebe zu pflegen.
Seien wir also ab der Dämmerung heute bereit um die Wunder zu sehen und zu empfangen, welche uns umgeben. Öffnen wir uns dem Sein und unserem eigenen einzigartigen Leben und seinen Ereignissen.
Am Kreuzweg Christi ist die elfte Station, an welcher er ans Kreuz genagelt wird. Ab hier kann und muß er nichts mehr tun. Es wird nichts mehr von ihm abverlangt. So schmerzhaft die Ereignisse auch seien mögen, er kann nichts mehr tun. Er wird gekreuzigt, daß Kreuz wir hochgehoben und er stirbt schließlich. Gleichzeitig wird aber die zwölfte Raunacht auch die kindbringende Nacht genannt. Die Nacht, als die heiligen Drei Könige kommen. Die drei Könige sind: Seele, Geist und Körper.
Wir hatten in der elften Nacht zu unserem innersten und einfachsten schöpferischen Bewusstsein gefunden. Gleichzeitig haben wir aber auch jede Erwartung "auf" - "gegeben". Wir haben alles getan, nun antwortet der Himmel und sendet uns seinen Segen. Und wenn dieser Segen nicht so aussieht, wie wir es erwartet hatten, dann sollten wir uns fragen, ob nicht genau dies der größte Segen ist, daß die Dinge anders kommen, als erwartet?
Zum Sonnenuntergang empfiehlt es sich wieder ein Ritual zu begehen, diesmal kann es ruhig ein wenig festlicher Sein, als sonst. Wir können den Platz, wo wir meditieren möchten gerne schön herreichten. Wir können uns auch gerne etwas schöner anziehen, als wir es sonst täten. Ein Spaziergang draußen und ein stilles Gespräch mit Mutter Erde und Vater Himmel ist wie immer auch etwas Gutes. Dieses Fest kann gerne wie ein kleines zweites Weihnachten begangen werden. Es schließt unseren Prozeß der zwölft Raunächte ab und bringt diese zu ihrem Höhepunkt. Ein Höhepunkt, auf welchen ich in keiner Weise mehr einwirken sollte und kann.
Laßt Euch also in der letzten Raunacht beschenken!
Liebe Grüße,
Attila