ohne den Sohn deines Lebensgefährten persönlich zu kennen, möchte ich mich da nicht verbindlich äußern. Aber ich kann dir ein paar allgemeine Dinge sagen, da ich (leider) mit unserem nun fast 21 jährigen Sohn langwierige ADHS - Erfahrung habe.
Zum einen gibt es einen Unterschied zwischen ADS und ADHS. Bei ADS kann das nervige Gezampel komplett fehlen (unkonzentrierte Träumer). Es gibt natürlich fließende Übregänge zwischen den beiden Formen in allen erdenklichen Variationen.
Natürlich hast du Recht, dass man auch andere Ursachen in Betracht ziehen muss. So verlockt ja in eurer Familiensituation der Wechsel zwischen den Aufenthalten bei der Mutter und bei euch (besonders bei Uneinigkeit der Eltern, die ja wahrscheinlich ist, sonst hätten sie sich nicht getrennt) geradezu dazu, den einen gegen den anderen auszuspielen. Möglicherweise ist es auch ein Ausdruck davon, dass der Junge unter dem Verlust der kompletten Familie leidet.
Dann darf man nicht vergessen - selbst wenn die Diagnose ADS korrekt ist - das nicht jedes Verhalten des Kindes darauf zurückzuführen ist.
Und: Ja, in gewissem Maße können diese Kinder auch switschen. Mein Sohn hat sich woanders (interessanterweise meist dort, wo er befürchtete, durch sein unangebrachtes Verhalten einen Zuneigungsverlust zu riskieren) manchmal ganz erstaunlich beherrscht. Das ging aber immer nur für eine gewisse Zeit, danach brach es dann um so heftiger aus ihm heraus. Dann ist das Verhalten auch abhängig von der Tagesform und davon wie stark das Kind gerade unter Druck steht (z. B. Schule, Erwartungen der Lehrer oder anderer Personen) oder wie der Erzieher selbst gerade drauf ist.
Ferner muss man bedenken, dass die Erziehung eines solchen Kindes wirklich an die Substanz gehen kann und gelegentliche Inkonsequenzen im Gegensatz zu "normalen" Kindern viel stärkere Auswirkungen haben.
Natürlich ist es viel einfacher, diese Konsequenz ein Wochenende oder eine Ferienwoche durchzuhalten (besonders, wenn das Kind sich gerade zu beherrschen bemüht ist und man vielleicht selbst gerade Freizeit hat), als wenn man das permanent durchhalten muss, inklusive Schulstress und Druck durch eigene Berufstätigkeit (bzw.auch Druck durch den geschiedenen Ehepartner, der gewisse Erwartungen hegt).
Allerdings muss die Diagnose ADS ja nicht zwangsläufig eine Ritalinbehandlung nach sich ziehen. Wir haben das zwar bei unserem Sohn eine Weile gemacht, da ich nach mehreren Verkehrsunfällen von ihm selbst und Treppenstürzen seiner Brüder (er hat weder die Autos im Straßenverkehr, noch Personen, die er über den Haufen gerannt hat registriert) zu dem Schluss gekommen bin, dass er die Verschonung vor den Nebenwirkungen vermutlich durch irgendeinen Unfall nicht überleben würde. Allerdings muss man sich bewusst machen, dass Ritalin ADS nicht heilt. Uns hat es geholfen, ihn für Verhaltenstherapie überhaupt empfänglich zu machen. Und sobald dieser Punkt erreicht war, dass wir überhaupt etwas bei ihm erreichen konnten, wurde das Medikament langsam wieder abgesetzt.(Bevor man sich für Ritalin entscheidet sollte man natürlich ausprobieren, ob ungefährlichere Methoden nicht auch Wirkung zeigen. Das war bei uns leider nicht der Fall.) Man darf natürlich auch nicht denken, dass Verhaltenstherapie bei der Ergotherapeutin stattfindet oder man das Kind sich irgendwie in einer Sportgruppe einfach austoben lassen kann. Das ist allenfalls Unterstützung. In die Sportgruppe musste ich zum Schutz der anderen Kinder sogar mitgehen. Die eigentliche "Therapie" findet zuhause statt, von morgens bis abends (oder auch nachts) jede Minute, die man mit dem Kind zusammen ist und man kann nur hoffen, dass man außer ständigen Vorwürfen hier und da auch mal so etwas wie Unterstützung oder wenigstens den Versuch einer Entlastung bekommt.
Rückblickend kann ich sagen, dass mir das ADHS meines Sohnes einen Nervenkrieg besonders mit Lehrern (falsche Erwartungen an das Kind) und das Gefühl in kürzester Zeit um Jahre gealtert zu sein einbrachte. Aber es hat sich gelohnt. Er hat gelernt Konzentrationsstrategien zu entwickeln, sich zu sortieren und seine innere Unruhe in Kreativität umzuleiten. Er hat sogar noch das Fachabi geschafft (musste aber alles zu Hause lernen, da er im unruhigen Klassenzimmer einfach nichts mitbekommt), hat einen Beruf in dem er kreativ vor sich hinwerkeln und seine nie ausgehenden Ideen einbringen kann (obendrein flexible Arbeitszeit, die morgens schon mal den Pünktlichkeitsstress nimmt) und fährt allen Prognosen zum Trotze bisher unfallfrei Auto.
Ich hoffe, dass ich dir hiermit etwas helfen konnt,
LG
Martina