ich habe mir gestern das Handbuch Suizidprävention von der Internetseite der Telefonseelsorge heruntergeladen. Eine meiner größten Ängste bezüglich meiner angestrebten therapeutischen Tätigkeit wäre es, mit einem suizidbereiten Patienten konfrontiert zu werden und nicht zu wissen, wie ich mich richtig verhalten soll. Ich finde diese Veröffentlichung der Telefonseelsorge äußerst informativ und möchte Euch einige Dinge daraus nicht vorenthalten. Den Link zu dieser Seite habe ich gestern bereits in einem gesonderten Thread bekanntgegen.
SEIDLITZ, Heiner, 2001, Arbeitsblatt:
Anleitung für das beratende Gespräch bei Suizidgefährdung
1. Beziehung schaffen und Vertrauen aufbauen
• keine Warum-Fragen stellen, sie fordern eine Rechtfertigungsposition heraus
• Bestätigen der verzweifelten Situation
• Suizidgedanken offen ansprechen
• Verzweiflung würdigen und teilen - sich von Aufmunterungen enthalten Aufmuntern eines Verzweifelten bedeutet Verspotten
• Anerkennen des Rechts auf Suizid und des Rechts auf würdiges Leben
• Anerkennen der eigenen Ohnmacht, jemanden vom Suizid abzuhalten
• Aggressionen, Skepsis und Zurückweisungen als Mittel der Beziehungsaufnahme und Wahrung der eigenen Autonomie positiv bewerten
2. Einengung erweitern
• sich Zeit lassen für das Gespräch
• bedrohlich erlebte Lebenssituation und die dazugehörigen Gefühle und Impulse klären; dadurch Abstand gewinnen
• Umdeutungen des Suizidwunsches anbieten als aktives Handeln Lösungsversuch
einer sehr schwierigen Situation und Zeichen von Selbstachtung
• Auswirkungen des Suizidversuches klären und Ideen dazu konfrontieren
• positives Anliegen des Suizidwunsches würdigen
• Ausschau halten nach weiteren Problemlösemöglichkeiten
• Ausschau halten nach weiteren hilfreichen Personen, die einbezogen werden sollen
3. Zeit gewinnen und Selbstverantwortung stärken
• Begrenztheit anerkennen; keine Versprechungen machen, die nicht einzuhalten
sind; keine falschen Hoffnungen wecken
• dafür werben, die Entscheidung zum Sich-Töten offen zu halten
• konkrete Hilfsangebote anbieten und Hemmungen berücksichtigen
• nicht gegen den Willen des Suizidgefährdeten handeln
SEIDLITZ, Heiner, 2001, Arbeitsblatt:
Ziele der Krisenintervention bei akuter Suizidalität
Grundsätzlich muss jede/r Helfer/in / Berater/in sich darüber im Klaren sein, ob und unter welchen Bedingungen er/sie sein/ihr Angebot als Beratung/Begleitung oder als Kontrolle versteht.
Die Ziele der beratenden Krisenintervention:
• Beziehung schaffen, um über die Lebenskrise und die Suizidideen sprechen zu können
• Einengung erweitern (Suizidgedanken aktiv ansprechen, klären und konfrontieren,
Anliegen verstehen, belastenden Konflikt ansprechen und klären, Handlungsalternativen ansprechen und suchen)
• Zeit gewinnen
• Entscheidungsmöglichkeiten offenhalten, Selbstverantwortung stärken
Diese Ziele werden am ehesten erreicht, wenn sich Helfer nicht als Verhinderer des Suizid verstehen, sondern als kritisch wohlwollende Begleiter der Hilfesuchenden, damit sie das Anliegen des Suizidwunsches verstehen und die ihnen gemäße Lebensentscheidung treffen. Sie übernehmen die Verantwortung für die eigenen Handlungen, nicht für die Verhinderung eines Suizids.
Die Ziele der kontrollierenden Krisenintervention:
Der/die Helfer/in macht sich zum Anwalt, um den/die Suizidgefährdete mit kontrollierenden Maßnahmen vor der Selbstgefährdung zu schützen. Er/sie übernimmt die Verantwortung für sein/ihr Weiterleben.
• Verhinderung des geplanten Suizids
• Maßnahmen, um die Person zu identifizieren und zu retten
• Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen, Sanktionen
SORGATZ, Hardo (www.suizidprophylaxe.de)
Leitpunkte zum Telefongespräch mit Suizidalen
1. Nimm jeden Selbsttötungshinweis am Telefon ernst!
2. Ein Lebensmüder am Telefon hängt noch am Leben, sonst hätte er nicht angerufen.
3. Suizidales Verhalten ist häufig ein (letzter) Versuch, mit einem Mitmenschen zu reden, und sei er noch so anonym.
4. Suizidale Äußerungen müssen aktives Zuhören auslösen.
5. Suizidenten sehen häufig schwarz/weiß. Sie erwarten daher in den meisten Fällen eine eindeutige Kommunikationsstruktur (z. B. Vater — Kind).
6. Die gefährlichen Höhepunkte einer suizidalen Krise dauern nur wenige Stunden.
Befürchte nicht, daß Du Dir zuviel vergibst, wenn Du Dich (als Letzter) ausnutzen lässt.
7. Wenn Du selbst mit Deinen suizidalen Gedanken und Wünschen im Reinen bist,
dann kannst Du angstfrei mit den suizidalen Bestrebungen des anderen umgehen.
8. Zeige Angst um den anderen, aber keine Angst vor den Worten und Vorhaben des
anderen.
9. Vermeide ängstliche, wohlgemeinte Umschreibungen. Sage statt „Suizid“
,,Du willst Dich umbringen“ oder statt „Tabletten nehmen“ „Du willst Dich vergiften“.
10. Suizidale Anrufer schwanken ambivalent zwischen Leben und Tod. Verdeutliche diese Ambivalenz und verstärke sie, so dass der andere sich noch einmal beide Alternativen überlegen muss.
11. Versuche, den anderen beim Vornamen zu nennen, das schafft die erste persönliche Beziehung.
12. Wer sich das Leben nehmen will, hat ein Recht darauf, Dir mit persönlichen Forderungen und ungereimten Gedanken auf die Nerven zu fallen.
13. Überlasse dem anderen die Art, in der er mit Dir sprechen möchte. Ist er sachlich, sei Du sachlich; ist er technisch, sei Du technisch; und ist er weich, sei Du auch weich.
14. Lass Dich nicht in seine Hoffnungslosigkeit hineinziehen, sondern hinterfrage sie durch vorsichtige Modifikation seiner Behauptungen.
15. Vermeide direkte Warum-Fragen, die den anderen in die Ecke drängen.
16. Versuche, den anderen zu Mini-Aktionen anzuregen. „Wir müssen lange miteinander sprechen, wollen Sie nicht etwas zu trinken (rauchen, sitzen) ans Telefon holen?“
17. Versuche, den anderen auf ihm noch wichtige Personen anzusprechen. Falls er wirklich keine hat, biete Dich als solche an.
18. Versuche zu ergründen, welche der fünf wichtigsten Lebensbereiche (Selbst, Arbeit, soziale Beziehungen, Religion und Liebe, Sex, Partnerschaft) noch am ehesten Auftrieb verleihen können.
19. Rege den anderen an, Fantasien über seine Zukunft zu entwickeln, aber nimm ihm
diese Arbeit nicht ab.
20. Lass Dich nicht von logischen Schlussfolgerungen überzeugen wie „darum muss ich mich umbringen“. Wandle sie um in „deshalb könnten Sie sich (in absehbarer Zeit, unter bestimmten Umständen, wenn die und jene Möglichkeiten nicht mehr offen stehen) vergiften“.
21. Stelle nur zwei bis drei direkte Fragen (Vorname, Suizidmittel).
22. Frage indirekt nach Wohngegend, Arbeitsstelle, Arbeitskollegen usw., aber nur wenn Du die Adresse herausfinden musst.
23. Sage dem anderen, wie gut Du es gefunden hast, mit ihm zu sprechen.
24. Versuche, eine Abmachung zu erreichen, dass der andere, bevor er sich umbringt, noch einmal Dich anruft — und erst, nachdem er die von ihm vorgeschlagenen Alternativen ausprobiert hat.
25. Habe keine Angst davor, dass sich manche Menschen ihr letztes menschliches Recht nehmen, auf das auch Du — zumindest in Gedanken — wohl nicht verzichten möchtest.
Dies sind Auszüge aus dem Handbuch Suizidprävention, erhältlich als Download von der Internetseite www.telefonseelsorge.de
In diesem Handbuch gibt es noch eine ganze Reihe von interessanten und hilfreichen Fakten und Statistiken zum Thema Suizidalität, es gibt sogar Gesprächsbeispiele. Weiter gibt es im Anhang eine umfangreiche Sammlung von Literatur- und Quellenhinweisen.
Viel Spaß beim Stöbern
Klaus