Lieber Attila
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Hausaufgabe "Tagesübungen" : Jeden Menschen hat Gott geschickt.
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Am Mittwoch hatte ich Stress mit der einen Halbklasse der 4. Klasse. Es ist eine grosse Gruppe (12 Kinder). Die Stelleninhaberin hat mich beauftragt, mit der Klasse die Nähmaschine einzuführen. Sie erwartet, dass die Kinder danach einfädeln und nähen können. Ein Junge findet Handarbeit absolut unterirdisch und hat dazu noch überhaupt kein Sitzleder. Er ärgert immer die anderen Kinder. Ich habe ihn deshalb eine Woche zuvor zur Klassenlehrerin geschickt. Am Mittwoch hat er sich jedoch selber übertroffen. Er setzte alles daran, dass ich ihn wieder zur Klassenlehrerin schicke, da er lieber liest als sich mit einer Nähmaschine auseinanderzusetzen. Er hat den anderen Kindern immer hinter meinem Rücken jeweils den Stecker der Nähmaschine herausgezogen, wenn sie am Nähen waren oder die Einstellungen an der Nähmaschine verstellt. Egal, was ich sagte, er hat es immer und immer wieder getan.
Drei Mädchen finden Handarbeit genauso unterirdisch. Sie verschwinden immer ohne meine Erlaubnis auf die Toilette und kommen nach 10 Minuten oder 15 Minuten wieder zurück und verschwinden 20 Minuten später wieder. Ich habe zu Beginn des Unterrichts klar gesagt, dass jedes Kind nur einmal zur Toilette gehen darf und zwar alleine und nur mit meiner Erlaubnis. Eines der Mädchen hat dann gefragt. Aber als ich mich das nächste Mal umgedreht habe, waren die anderen beiden auch verschwunden. Ich habe sie natürlich darauf angesprochen. Etwa 20 Minuten später hatten alle drei Mädchen plötzlich Bauchschmerzen und mussten dringend zur Toilette.
Zu Beginn des Unterrichts weise ich jeweils noch kurz als Repetition darauf hin, was beim Einfädeln und Nähen zu beachten ist, da die Kinder immer wieder dieselben Fehler machen. Ein Schüler hat mich unterbrochen und gefragt: "Können wir jetzt endlich anfangen?" Eine der drei oben erwähnten Schülerinnen hat mich gefragt: "Warum erzählen Sie uns das alles? Sie haben es schon letzte Woche gesagt!" Ich habe die Kinder dann geheissen, mit Arbeiten loszulegen. Der Schüler, der mich unterbrochen hat, hatte keinen blassen Schimmer von Einfädeln, obwohl die Kinder mindestens 40 Mal ein- und ausgefädelt haben. Er rief sofort nach mir und hat tatsächlich erwartet, dass ich ihm beim Einfädeln helfe!
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Da bisher fast in jeder Stellvertretung solche Situationen aufgetaucht sind, wo mir alles aus dem Ruder zu laufen begann, habe ich mich natürlich sofort gefragt, was ich falsch gemacht habe, dass es schon wieder passiert ist.
Ich hatte auch sofort Angst, dass mich die Schulleitung rausschmeisst, weil sie mich für unfähig hält, eine Klasse zu führen.
Mir grauste richtig vor dem nächsten Mittwoch!
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Zu Hause habe ich dann eine Kontemplation zu diesem Vorfall gemacht. Dabei kam folgendes heraus:
Überzeugungen und Glaubenssätze:
- Ich wollte unbedingt die Erwartung der Stelleninhaberin erfüllen, dass alle Kindern einfädeln und nähen können, wenn sie die Klasse im Februar wieder übernimmt. Ich wollte auf sie einen guten Eindruck machen und nicht als Versager dastehen.
- In der Lehrerausbildung habe ich seinerzeit noch gelernt, dass man nur eine fähige Lehrperson ist, wenn man alleine mit einer Klasse klarkommt. Dieser Glaubenssatz sitzt bei mir sehr tief.
- Ich habe gelernt, dass alle angefangenen Arbeiten beendet werden müssen. Ich bin noch stark produkt-orientiert.
- Ich habe gelernt, dass ich nur eine fähige Lehrperson bin, wenn ich in der Lage bin, die Kinder zu motivieren.
- Ich habe gelernt, dass man jede Unterrichtslektion mit einer kurzen Repetition beginnt.
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Was haben mir die Kinder gespiegelt?
- Unterrichten ist mein Brotjob. Ich habe keinen Spass daran.
- Ich finde es müssig, den Kindern immer wieder dasselbe von neuem zu erklären. Ich finde es müssig, den Kindern das Nähen an der Maschine beizubringen, obwohl es sie kein bisschen interessiert.
- Ich würde am liebsten auch eine WC-Pause machen oder etwas für mich nähen.
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Schlussfolgerung
- Warum muss eine angefangene Arbeit auf biegen und brechen beendet werden? Ich habe mich entschieden, die Schüler eine Technik ausprobieren zu lassen, ohne dass sie die Arbeit beenden müssen.
- Ich habe mich entschieden, den Prozess zu benoten, anstatt das Endprodukt.
- Es ist unmöglich zu erreichen, dass alle Kindern eine Nähmaschine einfädeln können, egal, wie lange man übt!
- Ich rede zu Beginn des Unterrichts nur noch dann, wenn ich es als sinnvoll erachte.
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Wie bin ich vorgegangen?
- Ich habe der Klassenlehrperson per E-Mail mitgeteilt, was sich im Unterricht zugetragen hat. Am nächsten Tag hatten wir ein nettes Gespräch. Ich habe erfahren, dass sie dieselben Probleme mit diesen Schülern hatte, als sie die Klasse Anfang Schuljahr übernommen hat. Wie haben vereinbart, wie ich vorgehen soll, wenn diese Kinder wieder gegen die "Regeln" verstossen.
- Ich hatte auch ein Gespräch mit der anderen Handarbeitslehrerin. Sie hatte diese Klasse im letzten Schuljahr. Auch sie hatte mit diesen Kindern Schwierigkeiten.
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Was habe ich daraus gelernt?
- Dass Klassenkonstellationen schwierig sein können.
- Dass ich andere um Hilfe bitten darf, ohne gleich als Versager abgestempelt zu werden.
- Dass Kinder so sein dürfen, wie sie sind, aber dass ich trotzdem Grenzen setzen darf.
- Dass ich einen Weg finden möchte, um meine Einstellung zum Unterrichten zu verändern ... keine leichte Aufgabe ...
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Liebe Grüsse
Pia