Lieber Attila und Interessierte
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Kapitel 4: Die 4. Raunacht
Einmal mehr bleibe ich auf dem bequemen Waldweg stehen, um mich auf das bevorstehende Querwaldein vorzubereiten. Ich bin etwas angespannt. Wie gelange ich wohl dieses Mal zur Zaubereiche? Ich schaue mich nach allen Seiten um. Kein Geräusch ist zu hören. Immer noch liegt viel Schnee. Die Sonnenstrahlen wärmen meinen Körper. In der Ferne klopft ein Specht einen Baumstamm ab. Eine Amsel zettert.
Dann auf einmal wird es dunkel. Ich schaue automatisch nach oben. Dunkle, fast schwarze Wolken haben sich in windeseile vor die Sonne geschoben und die wärmenden Strahlen aus dem Wald verbannt. Schneeflocken rieseln still auf mich herab. Mit jeder verstrichenen Sekunde wird der Schneefall dichter und die Schneeflocken grösser. Schon nach wenigen Minuten ist der Schneefall so dicht, dass ich nur noch weiss um mich herum sehen kann.
Wind kommt auf. Zuerst nur ein sanftes Lüftchen, dass mir fast zärtlich über die kalten, nassen Wangen streift. Das sanfte Lüftchen wird binnen Sekunden zu einem ausgewachsenen Orkan. Ich lasse mich erschrocken auf die Knie in den mindestens 30 cm hohen Neuschnee fallen. Doch der Wind zerrt mich erbarmungslos an den Armen hoch und hebt mich in die Luft. Ich werde ein paar Mal im Uhrzeigersinn um die Längsachse gedreht, dann, bevor mir schlecht wird, ein paar Mal im Gegenuhrzeigersinn. Der Orkan treibt mich zwischen den Baumstämmen hindurch, um die Bäume herum, dann spiralförmig nach oben um die Baumkrone herum und beim nächsten Baum wieder spiralförmig nach unten. Erstaunlich, dass ich immer noch aufrecht stehe, den Kopf nach oben. Obwohl ich jederzeit gegen einen Baumstamm klatschen oder an einem Ast hängenbleiben könnte, verspüre ich kein bisschen Angst. Diese Sturmfahrt beginnt mir sogar Spass zu machen!
Der Orkan schiebt mich erneut spiralförmig um eine Tanne herum nach oben. Plötzlich befinde ich mich im hellen Sonnenschein, über den Baumkronen des Waldes, wie wenn ich den Hochnebel durchstossen hätte. Keine einzige Schneeflocke mehr! Wind still. Ich stehe bewegungslos in der Luft! Wie kann das sein? Eigentlich müsste ich doch in die Tiefe stürzen! Es fühlt sich jedoch an, als würde ich auf dem Boden stehen.
Schliesslich wage ich einen Blick auf meine Schuhe! Vor erstaunen klappt mir der Unterkiefer herunter.
Ich stehe auf einem Schneekristall von etwa einem Meter Durchmesser!
Aber es geht noch weiter. An meinem rechten und an meinem linken Unterarm, oder besser gesagt, an meiner Jacke, haftet je ein Schneekristall von etwa 30 cm Durchmesser. Diese beiden Schneekristalle ermöglichten es mir, im Schneesturm aufrecht zu stehen! Sie stützen mich!
Mein Blick schweift in die Tiefe unter meinen Füssen. Im Wald tobt noch immer der Schneesturm! Wie seltsam! Wie befremdlich! Es widerspricht jeglicher Logik.
Ein leichtes Rucken unter meinen Schuhen holt mich in den Augenblick zurück. Der grosse Schneekristall hat sich in Bewegung gesetzt. Die Sonnenstrahlen dringen durch den bizarr geformten und zugleich filigranen Schneekristall hindurch und lassen unter mir über den Baumkronen einen Regenbogen entstehen. Ein atemberaubendes Schauspiel! Ich liebe Regenbogen!
Der Schneekristall kurvt etwa drei Meter oberhalb der Baumkronen herum, als würde er einem unsichtbaren Weg folgen. Im Wald schneit es noch immer.
Ich richte meinen Blick gerade aus. In weiter Ferne ragt eine Baumkrone weit über die anderen Bäume heraus. Das muss die Zaubereiche sein! Aus der Vogelperspektive gesehen, scheint der Wald unter mir unendlich gross zu sein. Die Zaubereiche scheint mehrere Tagesmärsche weit entfernt zu sein.
Ich mache mich auf eine längere Reise zur Zaubereiche gefasst und lasse den Blick wieder in die Tiefe schweifen. Der Schneekristall gleitet nur in einem sehr gemächlichen Tempo durch die Luft. Der Regenboden folgt uns, wie dies bei Regenbogen so üblich ist. Der immer noch im Wald tobende Schneesturm versperrt mir die Sicht in den Wald hinein. Also richte ich den Blick wieder nach vorne und hätte vor Schreck beinahe geschrien!
Die mächtige Krone der Zaubereiche steht wie eine grüne Wand vor mir!
Ich bin sprachlos und kann nur noch staunen! Der Schneekristall unter meinen Schuhen stoppt und steigt, wie ein Lift, langsam senkrecht nach oben. Im Laubwerk der Zaubereiche sitzen unzählige Vögel und zwitschern, während weiter unten Schnee fällt und vom Wind um die kahlen Äste herumgewirbelt wird.
Der Schneekristall stopp erneut und bewegt sich waagrecht ins Geäst der Zaubereiche hinein. Bevor ich mir Gedanken darüber machen kann, was als Nächstes geschehen könnte, sause ich nach unten. Die Schneekristalle haben mich fallen gelassen! Belaubte Äste sauen dicht an mir vorbei! Im nächsten Augenblick befinde ich mich in der Bibliothek, einen aufgespannten Regenschirm in der rechten Hand halten. Ich schwebe langsam von der Decke zwischen zwei Bücherregalen auf den Fussboden zu und lande in einem Holzruderboot! Mary Poppins lässt grüssen!
Kaum sitze ich auf der Ruderbank, setzt sich das Boot in Bewegung. Es kurvt gemächlich durch das Bücherregal-Labyrinth. Die Fahrt dauert ziemlich lange. Die unzähligen in den Bücherregalen aufgereihten Bücher bringen mich immer wieder zum Staunen. Woher sie wohl kommen? Wer sie wohl geschrieben hat? Was sie wohl beinhalten?
Das Boot stoppt beim Tisch. Ich steige aus. Murielle Rufus wartet bereits, auf dem Schneekristallbuch sitzend, auf mich. Das Boot fährt weiter und verschwindet zwischen zwei Bücherregalen. Ich setze mich an den Tisch.
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Murielle Rufus: Und? Wie war dieses Mal die Reise hierher?
Ich: Abgefahren und sehr gewöhnungsbedürftig. – Wie kann ein Boot ohne Wasser fahren?
Murielle Rufus: Gut! – Denn genauso ist das Leben. Doch sobald du die neuen Umstände akzeptiert und dich an sie gewöhnt hast, macht das Leben Spass.
Ich: Davon, dass das Leben Spass macht, habe ich bisher nur wenig gespürt.
Murielle Rufus: Das kommt daher, dass du die Umstände zuerst akzeptieren lernen musst. – Aber nun lass uns beginnen! Das Thema der vierten Raunacht: Das verletzte innere Kind.
Ich: Ich habe mir schon gedacht, dass dieses Thema noch auftauchen wird.
Murielle Rufus: Das hört sich nach sehr wenig Begeisterung an!
Ich: Stimmt! Ich weiss aber, dass es wichtig ist, mich damit zu befassen! In meinem aktuellen Roman ist deshalb das Innere Kind entsprechend ein grosses Thema.
Murielle Rufus: Sehr gut! – Kommen wir nun zur ersten Frage: Was möchtest du heute nachholen, was damals zu kurz kam?
Ich: Ich liebe es, Dinge zu tun, die keinem eigentlichen Zweck dienen, die man sogar als nutzlos und sinnlos bezeichnen könnte. Fliessbandarbeit ohne Nutzen.
Murielle Rufus: Zum Beispiel?
Ich: Pixelbilder! Ich bin schon am dritten Bild! Ich finde es toll, dass die Möglichkeit besteht, von eigen Fotos Pixelbilder erstellen zu können. Ich habe viele Fotos, die sich dafür eignen. Ich liebe es, diese kleinen Würfelchen von 2 mm Seitenlänge mit der Pinzette auf eine Platte zu stecken. Richtige Fliessbandarbeit! Total unkreativ!
Murielle Rufus: Unkreativ?
Ich: Ja. Der Computer wandelt das Foto in Pixel um und berechnet die Farben. Der Computer erstellt auch die Vorlage mit den entsprechenden Farben.
Murielle Rufus: Aber du musst die Pixel an der richtigen Stelle auf der Platte platzieren. Dazu bedarf es Konzentration, Fingerspitzengefühl und handwerkliches Geschick. Es braucht zudem viel Ausdauer, da das Bild 20 Platten à 2'000 Pixel umfasst. – Übrigens, einen Fingerhut für das Festdrücken der Pixel umzufunktionieren, ist kreativ!
Ich: Und was soll ich nachher mit den Bildern machen?
Murielle Rufus: Sie aufhängen! Sie verkaufen!
Ich: Verkaufen? Niemand interessiert sich für Pixelbilder!
Murielle Rufus: Da könntest du dich täuschen! Wie gesagt, diese Art Bilder erfordern Konzentration, handwerkliches Geschick und Ausdauer. – In dir ist immer noch die Überzeugung fest verankert, dass das, was dir locker von der Hand geht, allen anderen ebenfalls locker von der Hand geht. Und – dass es alle anderen mindestens zehn Mal besser können als du. Dadurch verkennst du deine Talente und schaust dich als völlig wertlos an. Doch du bist wertvoll, Pia Ursula! Deine Talente sind wertvoll und einzigartig!
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Eine kurze Pause tritt ein.
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Murielle Rufus: Welche schöne Erinnerung aus deiner Kindheit gibt dir heute noch Kraft?
Ich: Das Baden in der Emme!
Murielle Rufus: Die Emme?
Ich: In der Schweiz gibt es nur Gebirgsbäche, Voralpenbäche und Voralpenflüsse und keine so grossen Ströme, wie in Deutschland, Russland und anderen Ländern, die zum Teil so breit sind, dass man kaum das andere Ufer sehen kann. Die Emme ist ein Voralpenbach im Emmental (um die zwanzig Meter breit), genaugenommen ein Wildbach, den die Menschen zu zähmen versuchten, indem sie in gewissen Abständen zum Teil mehrere Meter hohe Schwellen einbauten, um den Wasserfluss zu verlangsamen. In meiner Kindheit gingen wir im Sommer anstatt in ein öffentliches Schwimmbad häufig am Sonntag an die Emme. Eigentlich müsste ich schreiben in die Emme, da wir uns auf einer trocken gefallenen Kiesbank im Bachbett aufhielten. Denn im Sommer führte die Emme in der Regel nur wenig Wasser.
Murielle Rufus: Kannst du dich erinnern, wie es dort roch?
Ich: Es roch nach Emme. Dieser Geruch setzte sich aus dem Geruch nach feuchtem Sand, nach Wasser und nach Fisch zusammen. Ich habe mich schon damals gefragt, warum Süsswasser, im Gegensatz zu Meerwasser, nach Fisch riecht, auch wenn in Wildbächen kaum Fische vorhanden sind.
Murielle Rufus: Kannst du dich an die Temperatur erinnern?
Ich: Wir sind immer gegen neun Uhr vor Ort gewesen. Am Morgen war es noch angenehm kühl, da die Bäume und Sträucher am Ufer ihren Schatten ins Bachbett warfen. Um die Mittagszeit, wenn die Sonne hoch am Himmel stand, heizte sich die Steine der trocken gefallene Kiesbank sehr stark auf, sodass wir uns in den Schatten unter die Bäume und Sträucher, dicht am Ufer zurückziehen mussten. Nach einem Bad im sehr kalten fliessenden Wasser jedoch, konnten wir uns prima auf den warmen Steinen wieder aufwärmen.
Murielle Rufus: Was kannst du mir über die Natur bei der Emme erzählen?
Ich: Dem Ufer der Emme folgte auf einem künstlichen Damm der Wanderweg. Um ins Bachbett zu gelangen, mussten wir die steile Uferböschung hinuntersteigen. An der Stelle, die wir uns ausgesucht hatten, gab es einen schmalen Pfad ins Bachbett hinunter, der vermutlich von den Fischern angelegt wurde. Sonst wäre es sehr schwierig gewesen, ins Bachbett zu gelangen, da das Ufer auf beiden Seiten dicht mit Sträuchern, Weiden, Birken, Erlen, Eschen … bewachsen war. Auf der Kiesbank wuchsen stellenweise jungen Birken, Gras und sogar Löwenzahn. Die Birken hatten offenbar das Hochwasser überstanden, ohne weggerissen zu werden. Im Wasser hatte es auf der gegenüberliegenden Uferseite, wo das Wasser etwas tiefer war, Wasserpflanzen, die sich in der Strömung rhythmisch bewegten. Ich habe mich von diesen Wasserpflanzen, vermutlich Algen, immer gefürchtet und es vermieden, das Wasser an dieser Stelle zu betreten. Grössere, sich ständig im Wasser befindende Steine waren mit einem Algenteppich überzogen und sehr schlüpfrig, wie ein Fisch.
Murielle Rufus: Erinnerst du dich an Geräusche?
Ich: Hinter dem Damm mit dem Wanderweg, befand sich eine Eisenbahnlinie. In der Nähe unseres Badeplatzes befand sich ein unbewachter Bahnübergang. Das hatte zur Folge, dass der Zug jedes Mal pfiff, wenn er sich dem Bahnübergang näherte.
Unser Badeplatz befand sich zwischen zwei mindestens fünf Meter hohen Schwellen. Wir waren der unteren Schwelle etwas näher, sodass das monotone Geräusch des über die Schwelle hinunterstürzenden Wassers ständig zu hören war. Wenn ich mich im Wasser befand, hörte ich trotz dem lauten Geräusch des über die Schwelle hinunter stürzenden Wassers auch das gurgelnde Geräusch des fliessenden Wassers.
Vogelgezwitscher war ebenfalls ständig zu hören. Die Sänger waren im dichten Laubwerk der Sträucher und Bäume jedoch nur selten auszumachen.
Hin und wieder war auch das Propellergeräusch eines Zweimotorigen Flugzeuges oder die Stimmen von vorbeigehenden Wanderern und das Bellen eines Hundes zu hören oder das Hufgetrappel von Reitern.
Murielle Rufus: Kamen auch andere Leute auf diese Kiesbank?
Ich: Wir waren immer alleine auf der Kiesbank. Manchmal standen ein oder zwei Fischer oberhalb der Schwelle im Wasser und angelten im Wiederwasser unterhalb der Schwelle. Einmal kam eine Gruppe junger Erwachsener. Sie sprangen jedoch nur von der Schwelle ins Wiederwasser hinunter und verschwanden danach wieder. Mein Bruder und ich mussten uns immer von der Schwelle fernhalten, da die Strömung in der Nähe der Schwelle sehr stark war und uns mitgerissen hätte. Den Sturz über die Schwelle hinunter hätten wir sicher überlebt, da das Wiederwasser tief genug war. Doch dem Wiederwasser wieder zu entkommen, wäre sicher sehr schwierig für uns gewesen, da es sehr viel Kraft braucht.
Da wir nie zu nahe an die obere und die untere Schwelle heran durften, habe ich nie Fische (grösstwahrscheinlich Forellen) gesehen. Einmal sah ich in der Nähe des Wiederwassers der oberen Schwelle einen Fischreiher.
Murielle Rufus: Wie genau fühlst du dich auf dieser Kiesbank in der Emme?
Ich: Ich fühlte mich immer wie im siebten Himmel. Ich habe die Zeit und alles um mich herum vergessen. Es fühlte sich an, wie wenn ich durch ein Portal eine andere Welt betreten hätte. Ich wäre gerne jeden Tag hingegangen, doch mein Wohnort lag eine Stunde Autofahrt entfernt.
Murielle Rufus: Was hast du während des Aufenthaltes auf der Kiesbank getan?
Ich: Verschiedenes! Ich watete ins kalte, rasch fliessende, jedoch nur seichte Wasser hinein, setzte mich hin. Nach einer Weile drehte ich mich, den Kopf stromaufwärts, auf den Bauch und zog mich, mit den Händen nach den Steinen greifend stromaufwärts. Das war sehr anstrengend. Immer wieder schwappte mir dabei Wasser ins Gesicht. Im etwas tieferen Wasser liess ich mich ein Stück stromabwärts treiben. Da das Wasser sehr kalt war, hielt ich mich immer nur kurze Zeit darin auf. Auf den von der Sonne aufgewärmten Steinen auf der Kiesbank legte ich mich auf den Bauch und liess den Badeanzug trocknen.
Einmal kam ich auf die ungeschickte Idee, mit Brille gegen den Strom zu tauchen. Mit dem Resultat, dass mir die starke Strömung die Brille von der Nase riss und mit sich forttrug. Meine Bemühungen, die Brille einzuholen und aus dem Wasser zu fischen, blieben erfolglos, da ich zu nahe an der Schwelle war. Meine Mutter hat alles mit Fassung getragen. Den Rest des Tages musste ich jedoch ohne Brille zubringen, was alles andere als gemütlich war, da ich ohne Brille kaum etwas sehe.
Mein Bruder und ich bauten am Rand der Kiesbank eine Rinne und leiteten das Wasser in die von uns gebaute Rinne. Oder wir suchten möglichst flache, handliche Steine und liessen sie übers Wasser hüpfen. Es gab auch immer wieder Schwemmholz, zum Teil grosse Bäume, die nach dem Hochwasser auf der Kiesbank abgelagert wurden, und zum balancieren und klettern einluden.
Ich liebte es, in eine leere Limonade-Flasche (damals waren sie noch aus Glas) kleine, farbige Kieselsteine zu füllen. Die Farben der Kiesel waren jedoch nur zu sehen, wenn sie nass waren. Zu Hause habe ich zwar immer wieder frisches Wasser in die Flasche eingefüllt. Die Kieselsteine überzogen sich jedoch mit der Zeit mit einer schlüpfrigen Schicht.
Murielle Rufus: Wie hast du dich auf der Kiesbank bewegt?
Ich: Da auch abgerundete Kieselsteine für nackte Füsse unangenehm sind, trug ich immer alte, ausgediente Finken. Trotzdem musste ich gut darauf achten, wo ich hintrat. Besonders heimtückisch waren die Lücken und Vertiefungen zwischen den einzelnen grösseren Kieselsteinen. Und ganz besonders die vom Wasser bedeckten Steine waren rutschig, auch wenn sie keine grüne Algenschicht aufwiesen. Es war oft ein richtiger Balance-Akt mit seitlich ausgestreckten Armen, über die Kieselsteine. Wenn ich durchs Wasser schritt, wirbelte ich sozusagen bei jedem Schritt etwas Sand auf, der sich zwischen den Kieselsteinen abgelagert hatte. Der aufgewirbelte Sand platzierte sich dann frech in meinen Finken, sodass ich sie regelmässig ausziehen und vom Sand befreien musste.
Murielle Rufus: Da du dich an so viele Einzelheiten erinnern kannst, geben dir diese Erlebnisse auch heute noch sehr viel Kraft. Das ist auch der Grund, weshalb ich dir so viele Fragen gestellt habe. Du bist tief in diese Erlebnisse eingetaucht und hast ihre Kraft freigesetzt.
Ich: Beim Erzählen habe ich diese Kraft in meinem Körper deutlich gespürt.
Murielle Rufus: Wunderbar!
Ich: Danke, Murielle Rufus!
Murielle Rufus: Gerne, gerne!
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Eine weitere Schweigepause.
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Murielle Rufus: Welche Talente und Fähigkeiten hattest du schon als Kind?
Ich: Na schön! Wenn du unbedingt darauf bestehst!
Murielle Rufus: Ich bestehe unbedingt darauf!
Ich: Ich habe schon mit 6 Jahren von meiner Mutter Stricken und Häkeln gelernt. Mit 6 Jahren habe ich meine erste Weste gestrickt. Natürlich nur mit rechten Maschen. Kraus recht nennt man das im Fachjargon. Ich habe mir schon als Kind alle Pullover selber gestrickt. Ich war auch in der Lage, komplizierte Muster fehlerfrei zu stricken. – Das hört sich so schrecklich prahlerisch an!
Murielle Rufus: Nein! Es entspricht der Wahrheit. Es ist ein grosses Talent von dir! – Weiter! Was noch!
Ich: Wenn du meinst!
Murielle Rufus: Ja, ich meine!
Ich: Ich konnte schon mit 6 Jahren Blockflöte spielen. Lieder, die ich üben musste, konnte ich schnelle auswendig spielen. In den Schulferien, wenn ich keinen Instrumentalunterricht hatte und mich die Lieder oder Stücke gelangweilt haben, habe ich mir Musikstücke auf Tonbandkassetten angehört und die Hauptmelodie oder die Solostelle nachgespielt. – Aber jetzt reicht es! Jetzt habe ich mich genug ins Rampenlicht gestellt! Alle Menschen habe schliesslich besondere Talente!
Murielle Rufus: Natürlich! Es geht jedoch darum, dass du deine Talente als Talente erkennst, sie anerkennst und wertschätzt. Es besteht überhaupt kein Grund, sich dafür zu schämen oder sich zu verstecken!
Ich: Ich stehe nun einmal sehr ungern im Rampenlicht! Ich fühle mich dann so nackt, so ausgestellt!
Murielle Rufus: Das hat mit deiner Versagensangst zu tun. Deshalb spielst du nur auswendig, wenn du alleine bist. Deshalb singst du nur unter der Dusche.
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Die Feuerkatze erhebt sich und schmiegt ihren Körper an meine linke Schulter. Der buschige Schwanz streichelt meine Wangen. Das Schnurren hat eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich hoffe, dass auf unserer Reise durch die Raunächte keine weiteren Fragen zu meinen Talenten mehr auftauchen!
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Murielle Rufus: Was hat dir als Kind am meisten Freude bereitet?
Ich: Im Winter die Vögel am Futterplatz zu beobachten. Ich liebe das noch heute. Seit ich in diesem Haus wohne, füttere ich die Vögel im Winter und auch in den anderen Jahreszeiten, wenn sie es brauchen. Ich habe mehrere Futterplätze rund ums Haus angelegt, damit alle Vögel zum Zug kommen, ohne Kampf. Wenn Schnee liegt versammeln sich über hundert Singvögel auf meinem Grundstück. Kohlmeise, Blaumeise, Rotkehlchen, Sperling, Amsel, Buchfink und sogar Elster und Eichelhäher.
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Der buschige Schwanz der roten Feuerkatze schlägt rhythmisch auf die Tischplatte. Ich warte gespannt auf die nächste Frage.
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Murielle Rufus: Kommen wir nun zur Lektüre.
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Die rote Feuerkatze verlässt ihren Thron und schiebt mir das Schneekristallbuch zu. Im Buch steckt ein Lesezeichen. Es ragt oben und unten ein Stück aus dem Buch heraus. Ich greife mit der linken Hand an das oben herausragende Stück Lesezeichen und mit der rechten Hand an das untere Stück. Ich hebe das Buchzeichen an und öffne somit das Buch, ohne es anfassen zu müssen. Wieder ist eine Tarot-Karte abgebildet.
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Ich: Nummer 2 : Die Hohepriesterin
Murielle Rufus: Lies vor, was du geschrieben hast.
Ich: Die beiden gegensätzlichen Pole annehmen und den Wohlfühlbereich zwischen ihnen Polen ermitteln.
Murielle Rufus: Die Hohepriesterin steht aber auch für Verblendung und Illusion. Hier vor allem im Bezug auf deine Talente. Du verkennst deine Talente und unterliegst der Illusion, dass alle Menschen dieselben Talente besässen, wie du, und alles zehn Mal besser könnten als du.
Ich: Stimmt. Ich bemühe mich, diese Verblendung und Illusion abzulegen!
Murielle Rufus: Ich weiss! Deshalb setzen wir uns in diesem Gespräch damit auseinander. – Blättere nun die Seite um!
Ich: Wieder zwei Träume!
Murielle Rufus: Liess vor!
Ich: Traum 1: Ich befinde mich mit anderen Leuten, Erwachsenen und Kindern, in einem grossen Raum. Der ganze Boden wird von einem Bild aus Pixeln bedeckt. Da ich auf dem Bild stehe, sehe ich nur einen kleinen Ausschnitt des ganzen Bildes. Ich hätte gerne das ganze Bild gesehen.
Ein Mann greift nach einem Mikrophon und verkündet, dass in ein paar Minuten der Schwimmwettkampf beginnen würde. Ich frage mich, wo dieser Wettkampf stattfinden und wer daran teilnehmen wird. Der Mann beginnt die Teilnehmerliste vorzulesen. Zu meinem Erstaunen und Entsetzen nennt er auch meinen Namen, obwohl ich nie eine Anmeldung eingereicht habe.
Der Wettkampf findet in diesem Raum statt. Wo ist das Schwimmbecken? Die aufgerufenen Teilnehmer stellen sich in eine Reihe an einer der vier Wände. Alle Teilnehmer ausser mir, tragen einen Badeanzug. Ich habe keinen Badeanzug dabei und beschliesse, in den Kleidern anzutreten. Das ganze ist sowieso ein Witz. Wie schwimmt man ohne Wasser?
Der Mann mit dem Mikrophon gibt das Startzeichen. Die anderen Teilnehmer legen sich auf den Boden und robben oder kriechen auf allen Vieren los. Ich fühle, wie die Zuschauer ihren Blick auf mich heften. Sehr unangenehm. Also lege ich mich auf den Boden und mache Schwimmbewegungen, wie beim Brustschwimmen. Zu meinem Erstaunen komme ich tatsächlich voran, wie wenn ich in Wasser schwimmen würde. Die anderen Teilnehmer haben schon den halben Raum umrundet. Einige nehmen Abkürzungen, ohne disqualifiziert zu werden. Was für ein Wettkampf soll das bitteschön sein?
Ich beschleunige meine Bewegungen. Ich komme kaum noch voran. Da ich sowieso die Letzte bin, kann ich es genausogut gemütlich nehmen. Ganz ausser Atem verlangsame ich meine Schwimmbewegungen, bis ich mich sozusagen nur noch wie in Zeitlupe bewege. Zu meinem Erstaunen geht es plötzlich flott voran. Ich hole auf und überhole andere Teilnehmer sogar. Sie versuchen mich einzuholen, indem sie sich schneller bewegen. Dies bewirkt nur, dass ich sie immer mehr anhänge. Je langsamer die Bewegungen, desto schneller komme ich voran. Schliesslich habe ich alle Teilnehmer überholt und treffe als Erste im Ziel ein. Die Zuschauer jubeln mir zu.
Murielle Rufus: Wie kann man ohne Wasser schwimmen? Wie kann ein Boot ohne Wasser fahren?
Ich: In Träumen ist alles möglich! Offenbar ist diese Bibliothek auch eine Art Traumland.
Murielle Rufus: Eine von dir erschaffene Realität.
Ich: Du meinst eine Fantasiewelt!
Murielle Rufus: Eine Fantasiewelt und eine Traumwelt sind nur zwei andere Namen für Realität. Der Mensch nennt die Welt, in der er im Wachbewusstsein lebt, Realität, weil er sich daran am besten erinnert und sich die meiste Zeit darin aufhält. Dir wurde beigebracht, dass man nur im Wasser schwimmen kann und Boote sich nur im Wasser fortbewegen können! Im Traum und in dieser Bibliothek können sie sich aber auch ohne Wasser fortbewegen!
Ich: Tja, die verschiedenen Realitäten! Auch so ein Thema ...
Murielle Rufus: Und deine Deutung?
Ich: Der Schwimmwettkampf könnte ein Symbol für Situationen sein, in die ich hineingedrängt werde, ohne zu wissen worum es geht. Ich lasse mich darauf ein und finde die Regeln heraus. Ich gehe sogar als Sieger hervor.
Eile mit Weile. Wie in der Niemalsgasse bei Momo. Je langsamer sie geht, desto schneller kommt sie voran. Der Weg ist das Ziel. Wenn ich langsam gehe, habe ich Zeit, mich umzuschauen. Und plötzlich bin ich am Ziel, ohne ausser Atem zu sein.
Murielle Rufus: Lies den zweiten Traum vor!
Ich: Traum 2: Ich befinde mich in einem Güterbahnwagen eines Zuges. Ich bin alleine in diesem Wagen. Die Wände sind transparent, sodass ich zum vorderen Wagen sehen kann. Der Zug fährt sehr schnell. Der Güterbahnwagen vor mir entgleist zwei Mal beinahe in einer Kurve. In einer weiteren Kurve löst sich mein Wagen vom vorderen Wagen. Der Abstand zum vorderen Wagen wird immer grösser. Ich überlege, wie ich meinen Wagen und somit den abgehängten Rest des Zuges stoppen könnte. Plötzlich tauchen auf den Schienen mehrere Männer auf. Sie haben Stangen und andere Werkzeuge in der Hand, um den abgehängten Teil des Zuges zu stoppen.
Als mein Wagen steht, steige ich aus. Zu meinem Erstaunen steht der vordere Teil des Zuges nur ein paar Meter von meinem Wagen entfernt. Ich eile zum hintersten Wagen des vorderen Teils des Zuges. Das Fahrgestell besteht aus Metall, der Rest des Wagens aus Holz. Der Wagen hat kein Dach. Ich klettere an der Holzwand hinauf und schaue über den Rand in den Wagen hinein. Es befinden sich ziemlich viele Leute in diesem Bahnwagen. Sie stehen in Gruppen zusammen und unterhalten sich angeregt, ohne mich zu bemerken.
Nur eine Frau bemerkt mich. Sie löst sich aus ihrer Gruppe und kommt auf mich zu. Nach ein paar Schritten bleibt sie stehen und wirft mir einen Schlüssel zu. Der Schlüssel knallt gegen die Holzwand und fällt zu Boden. Die Frau wendet sich ab und kehrt zu ihrer Gruppe zurück. Ich habe erwartet, dass sie mir den Schlüssel gibt. Stattdessen hat sie ihn mir nur vor die Füsse geworfen. Ich klettere über die Wand in den Wagen hinein und hebe den Schlüssel auf. Es ist ein ziemlich grosser und schwerer Schlüssel. Was sich damit wohl öffnen lässt? Ich stecke ihn in die Jackentasche und klettere wieder aus dem Wagen.
Murielle Rufus: Und deine Deutung?
Ich: Zug: mein Leben
abgehängter Wagen, Teil des Zuges: mein Leben rast dahin, da jemand anderer am Steuer sitzt. Als mein Leben zu entgleisen droht, löst sich mein Wagen vom Rest des Zuges. Ich versuche den Zug zu stoppen, da es mir zu schnell geht.
Männer: könnten geistige Helfer symbolisieren, die mein Leben sozusagen verlangsamen, sodass ich eine kurze Rast einlegen kann, bevor es weitergeht.
Schlüssel: Ich erhalte immer wieder Dinge im Leben, die ich mir zwar selber holen muss, erarbeiten muss. Oft erkenne ich erst später, wozu sie dienen.
Frau: könnte menschliche Helfer symbolisieren, die unerwartet auftauchen.
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Liebe Grüsse
Pia