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Hallo Ihr Lieben,
ich wünsche Euch allen ein besinnliches Fest und alles Gute! Möge Frieden unsere Seelen erfüllen.
wie jedes Jahr, begleite ich die Raunächte auch über meine social Media-Kanäle, über Eure Fragen freue ich mich in unserer Facebook-Gruppe, bzw. bei einem unserer regelmäßigen Treffen. Alle Infos und Links findet ihr auf -» meiner Webseite.
Über Eure Fragen dazu freue ich mich in unserer Facebook-Gruppe.
Vielen Dank, dass Ihr hier seid!
Liebe Grüße, Attila
Die Weisheit sagt, Ich bin nichts. Die Liebe sagt, Ich bin alles. Zwischen diesen beiden fließt mein Leben. (Nisargadatta Maharaj)
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Lieber Attila und Interessierte
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Auf YouTube bin ich auf Fragen zum Thema jeder Raunacht gestossen ...
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Eine Reise durch die Raunächte
Kapitel 1: Die 1. Raunacht
Es ist kalt draussen, und es liegt erstaunlich viel Schnee für diese Jahreszeit. Obwohl ich den Weg zur Zaubereiche schon einige Male gegangen bin, sieht er jetzt im verschneiten Wald ganz anders aus. Die Äste, schwer mit Schnee beladen, haben sich langsam nach unten gebogen. Einige berühren sogar den Boden, andere stoppten auf Kopfhöhe. Ich muss immer wieder herabhängenden Ästen ausweichen, wenn untendurch schlüpfen unmöglich ist, was die Gefahr, mich zu verirren, deutlich erhöht. Alle Wegmarkierungen, die ich mir bei jedem Gang zur Zaubereiche immer wieder eingeprägt hatte, liegen unter dem Schnee begraben.
Ich wünschte, Murielle Rufus würde mich hier abholen und mir den Weg durch den Märchenwald zur Zaubereiche weisen. Doch wohin ich auch schaue, kein roter buschiger Schwanz, kein rotes Fell weit und breit. Ich bleibe stehen und versuche, mich zu orientieren. Doch der verschneite Wald sieht so anders aus.
Die Sonne durchstösst den Nebel und schickt ein paar ihrer Strahlen zu mir in den Wald hinunter. Ich fühle die wärmenden Strahlen deutlich auf meinem Gesicht. Welch eine Wohltat! Meine Gedanken wandern zur ersten Begegnung mit der Feuerkatze. Ich würde fast behaupten, dass es genau hier war, wo ich jetzt stehe. Ich war damals ziemlich entsetzt, als die riesige Feuerkatze aus dem Unterholz herausbrach und auf mich zukam. Wie erleichtert war ich, als sie sich mir als mein Krafttier vorstellte und zu einer normalen Katzengrösse zusammenschrumpfte.
Murielle Rufus. Murielle, das Yin-Feuer und Rufus, das Yang-Feuer. Deshalb die beiden gegensätzlichen Namen. Die Feuerkatze begleitete mich hauptsächlich als Murielle Rufus durch den Kurs Biografisches Schreiben anhand der Heldenreise. Nur, wenn ich gelegentlich in eine Szene aus meiner Kindheit eintauchte, begleitete sie mich als Murielle. Und nun wollte mich die Feuerkatze auch auf der Reise durch die Raunächte begleiten. Doch damit das überhaupt geschehen kann, muss ich erst einmal den Weg zur Zaubereiche finden. Denn es gibt nur diesen Eingang zur Bibliothek!
Der Nebel lässt noch mehr Sonnenstrahlen durch. Jetzt sieht der Wald noch viel märchenhafter aus. Meine Aufmerksamkeit wird von glitzernden Schnee vor meinen Füssen beansprucht. Eine Tierspur! Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die Spur eindeutig als Katzenspur. Murielle Rufus muss also erst vor kurzem hier vorbeigegangen sein. Vielleicht wartet die rote Feuerkatze ja bei der Zaubereiche auf mich!
Ich folge der glitzernden Katzenspur im Zickzack-Kurs durch den Wald und stehe schliesslich nach einer gefühlten Ewigkeit vor der mächtigen Zaubereiche. Ohne die Katzenspur hätte ich den Weg durch den verschneiten Wald niemals gefunden!
Die Zaubereiche ist am Stamm und auf den Ästen mit Schnee bedeckt, genau wie die anderen Bäume im Wald, mit dem Unterschied, dass ihre Äste noch belaubt sind. Ein sehr ungewohnter Anblick!
Die Spur der roten Feuerkatze führt geradewegs auf den mächtigen Stamm der Zaubereiche zu. So, wie es aussieht, erwartet mich Murielle Rufus in der Bibliothek. Ich trete an den Stamm heran, berühre die raue Rinde mit beiden Händen gleichzeitig und schon befinde ich mich in der riesigen Bibliothek. Dieser Übertritt vollzieht sich so schnell, dass ich nur die Berührung des Eichenstammes und das mich sogleich in der Bibliothek befinden, wahrzunehmen vermag.
Ich schaue mich nach der roten Feuerkatze um. Kein buschiger senkrecht in die Luft gestreckter Schwanz, kein rotes Fell zu sehen! Ich schaue mich automatisch nach einem Zeichen um, das mir den Weg zum Tisch durch das Bücherregal-Labyrinth weisen könnte. Meine Augen suchen den Fussboden ab. Bei meinem ersten Sologang zum Tisch hat mich eine Stimme im Kopf geführt, die mir rechts, links, geradeaus zugeflüstert hat. Beim zweiten Sologang war es das Muster auf dem Fussboden gewesen, und beim dritten die kurz aufblitzenden silbrigen Buchrücken zwischen den sonst grünen Buchrücken.
Da! Die glitzernde Katzenspur!
Sie setzt sich also in der Bibliothek fort. Ich folge der Spur, ohne eine Sekunde zu zögern. Mir scheint es, als ob mich die Spur durch die ganze Bibliothek geführt hat, bevor ich endlich den ersehnten Tisch erreiche.
Murielle Rufus thront einmal mehr auf dem geschlossenen Buch, welches auf dem Tisch liegt. Ich bin gespannt, wie die Reise durch die Raunächte vor sich gehen wird. Gibt es ein Gespräch? Lese ich im Buch?
Die rote Feuerkatze erhebt sich und begibt sich mit senkrecht in die Luft gestrecktem Schwanz zur Tischkante, wo sie mich mit einer Verbeugung, wie ein dressiertes Pferd in einer Show, in Empfang nimmt. Mein Blick landet auf dem auf dem Tisch liegenden Buch. Es hat die Grösse eines DIN A5 Papiers und weist einen weissen Einband mit einem Schneeflocken-Motiv auf.
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Murielle Rufus: Ich grüsse dich, Pia Ursula! Wie schön, dass du den Weg hierher gefunden hast! Setz dich!
Ich: Ich grüsse dich, Murielle Rufus. Ich habe den Weg nur dank deiner Spur im Schnee gefunden.
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Ich setze mich.
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Murielle Rufus: So war das auch gedacht. Aber du musstest die Spur auch zuerst entdecken!
Ich: Die Sonne hat mir sozusagen deine Spur gezeigt, mich darauf aufmerksam gemacht.
Murielle Rufus: Hilfsmittel jeglicher Art waren in diesem Fall erlaubt. – Lass uns beginnen! Jede Raunacht ist einem Thema gewidmet. Ich stelle dir zu diesem Thema ein paar Fragen. Anschliessend wartet noch eine Lektüre in diesem Buch vor dir auf dich!
Ich: Sind es wieder so knifflige Fragen, wie auf der Heldenreise?
Murielle Rufus: Nur knifflige Fragen bringen dich in den Raunächten weiter, Pia Ursula!
Ich: Na dann! Schiess los!
Murielle Rufus: Das Thema ist: Deine Wurzeln
Ich: Meine Wurzeln – könnte kompliziert werde!
Murielle Rufus: Abwarten! Wenn du an deine Familie denkst – welche Stärken, welche Gaben, welche besonderen Eigenschaften wurden dir mitgegeben?
Ich: Was für eine Frage! Solche Fragen machen mich immer verlegen. Ich habe immer das Gefühl, zu sehr im Mittelpunkt zu stehen! Ich fühle mich dann als Prahlhans!
Murielle Rufus: Auf dieser Reise bist du der Mittelpunkt, Pia Ursula! Wenn du im Leben weiter kommen willst, ist es wichtig, deine Stärken, Gaben (Talente) und besonderen Eigenschaften anzunehmen, sie anzuerkennen, sie Wert zu schätzen, ohne dich dabei als Prahlhans zu fühlen.
Ich: Na schön! Stärken: Ausdauer und Durchhaltevermögen. Gaben: Ich liebe es kreativ und künstlerisch tätig zu sein, und zwar in verschiedenen Bereichen. Besondere Eigenschaften: einfühlend, still, bewegungsfreudig, strebsam.
Murielle Rufus: Was möchtest du bewahren und pflegen?
Ich: Mich in irgendeiner Form künstlerisch ausdrücken zu können, ist für mich wie eine Art Lebenselexier.
Murielle Rufus: Mmh! Hört sich gut an! – Wo fühlst du dich verwurzelt?
Ich: Im Moment fühle ich mich noch in keinem Lebensbereich wirklich verwurzelt. Ich bin noch auf der Suche nach einem geeigneten Platz, um die ersehnten Wurzeln schlagen zu können.
Murielle Rufus: Welchen Segen möchtest du deinen Ahnen zusprechen, auch wenn nicht alles perfekt war?
Ich: Ich bin meinen Eltern dankbar, dass ich genau das Zuhause, genau diese Kindheit hatte, die sie mir gaben. Sie war auf ihre Art perfekt. Denn sie hat dazu geführt, dass ich jetzt da stehe, wo ich im Moment stehe. Ich bin bereit, Ahnenthemen zu lösen. Jetzt habe ich die Möglichkeit mein Leben so zu leben, wie ich es für richtig halte.
Murielle Rufus: Wie könntest du dich wieder tiefer mit der Natur verbinden?
Ich: Mit intensiver Gartenarbeit, Tiere und Pflanzen malen, mit ihnen kommunizieren, zu Fuss durch die Natur streifen, mit dem Fotoapparat in der Natur auf die Jagd gehen.
Murielle Rufus: Was zieht dich besonders an – der Wald, das Wasser, die Berge?
Ich: Wald und Berge. Mich faszinieren die endlosen kanadischen Wälder. Ich würde gerne mitten im Wald wohnen, weit ab von der menschlichen Zivilisation. Aber genauso sehr faszinieren mich Berge, besonders die Anden in Argentinien, der Berg Torre del Paines. Dort gibt es leider keine Wälder. Wenn ich mir Dok-Filme über Guanakos und Pumas und dem Andenkondor anschaue, habe ich das Gefühl, schon dort gewesen zu sein, als Guanako, Puma und Kondor. Klingt ziemlich kitschig. Leider ist es für einen Menschen unmöglich in dieser Wildnis zu überleben! Ein Glück für die Tiere.
Murielle Rufus: Was bedeutet 'Heimat' für dich?
Ich: Ich fühle mich überall fremd, heimatlos. Ich habe sehr oft das Gefühl, hier auf Erden fehl am Platz zu sein, auf dem falschen Planeten gelandet zu sein, auf die Erde strafversetzt worden zu sein, aus welchem Grund auch immer!
Murielle Rufus: Was bräuchte es, damit du dich auf der Erde in der menschlichen Zivilisation zuhause fühlst?
Ich: Schwer zu sagen! – Kein finanzieller Druck!
Murielle Rufus: Das ist nur eine Sorte Druck. Es gibt aber viele verschiedene Sorten von Druck! Zeitdruck, Erfolgsdruck, Leistungsdruck, Kaufdruck, Mediendruck, Trenddruck, To-Do-Listen-Druck … um nur einige zu nennen. Der grösste Druck, den du dir selbst auferlegst ist der To-Do-Listen-Druck. Deine endlose To-Do-Liste, die du jeden Tag vergeblich abzuarbeiten versuchst. Du verlangst von dir immer viel zu viel in viel zu kurzer Zeit. Reduziere deine To-Do-Liste auf das absolute Minimum und schau, was sich dabei in deinem Leben verändert.
Ich: Ich gebe mir grosse Mühe!
Murielle Rufus: Was bräuchte es noch?
Ich: Vielleicht ein eigenes Haus. Die Wohnungsmiete verschlingt viel Geld.
Murielle Rufus: Wie steht es mit deinem Elternhaus?
Ich: Interessanterweise sprach mich mein Bruder am Abend des 25. Dezembers, also zu Beginn der ersten Raunacht darauf an. Er und seine Frau möchten, dass ich das Elternhaus nach dem Ableben unseres Vaters übernehme, anstatt es zu vermieten oder zu verkaufen.
Murielle Rufus: Und?
Ich: Der erste Impuls war, es zu wagen und solange zu bleiben, wie es stimmig ist. Dieser Impuls wurde am letzten Channeling-Abend mit Attila von der Quelle untermauert.
Murielle Rufus: Und?
Ich: Natürlich mischte sich der Verstand mit allen möglichen Bedenken. Was sagen die Nachbarn, wenn du nach Jahren ins Elternhaus zurückgekrochen kommst? Nur Verlierer übernehmen das Elternhaus.
Murielle Rufus: Wer behauptet, dass nur Verlierer das Elternhaus übernehmen?
Ich: Keine Ahnung! Vielleicht ich, mein Verstand! Im Wohnquartier, wo mein Elternhaus steht, wurden nur zwei oder drei Einfamilienhäuser von den Nachkommen übernommen. Alle anderen wurden an fremde Leute verkauft.
Murielle Rufus: Und daraus schliesst du, dass nur Verlierer das Elternhaus übernehmen?
Ich: Vermutlich.
Murielle Rufus: Eine sehr unlogische Logik!
Ich: Vielleicht auch, weil ich mich als Verlierer fühle, da ich beruflich und finanziell bisher keinen Erfolg vorzuweisen habe.
Murielle Rufus: Stimmt diese Behauptung wirklich?
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Ich zucke mit den Schultern, da ich im Moment keine Antwort auf diese Frage habe.
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Murielle Rufus: Es ist höchste Zeit, dich in einem anderen Licht sehen zu lernen, Pia Ursula! So nebenbei bemerkt: Es gibt kein Versagen! Und – was hat dich zu interessieren, was die Nachbarn von dir denken. Zudem standest du im Schatten deiner Mutter, als du in deinem Elternhaus gewohnt hast. Sie hat sich vor allem mit den Nachbarn unterhalten. Die Nachbarn haben keine Ahnung, wer du wirklich bist. Das Elternhaus hat ausserdem eine ganz andere Energie, wenn nur du darin wohnst. Es ist Zeit, dein erstes Wohnen in diesem Haus loszulassen und dich dem zweiten Wohnen zu öffnen, um neue Erfahrungen machen zu können. Dazu kommt noch die Hausnummer 7.
Ich: Urvertrauen, Mystik, Offenheit, Klarsicht. Zudem passt sie zu meinem Geburtstag und Geburtsjahr. 25 = 7 und 1969 = 25 =7. Aber auch zum Anfangsbuchstaben meines Vornamens Pia. P ist der 16. Buchstabe. 16 = 7.
Ich habe natürlich keine Ahnung, wie lange mein Vater noch lebt. In mir macht sich jedoch immer wieder das Gefühl breit, dass die Übernahme des Elternhauses schneller ein Thema sein könnte als mir lieb ist.
Murielle Rufus: Deshalb ist es immer ratsam, sich dann mit den Themen auseinanderzusetzen, wenn sie sich in dein Leben drängen. Auch wenn der Verstand darin keine Notwendigkeit oder Logik erkennen kann!
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Ich nicke.
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Murielle Rufus: Und nun schlag das Buch auf der ersten Seite auf. Es wird Zeit für die Lektüre.
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Die Feuerkatze, die bisher auf dem weissen Buch gethront hatte, erhebt sich und streckt und reckt sich nach Katzenart. Ich greife ganz unbefangen und arglos nach dem vor mir liegenden Buch und ziehe bei der leisesten Berührung erschrocken meine linke Hand zurück. Es fühlt sich an, als ob ich in eiskalten Pulver-Schnee gegriffen hätte. Murielle Rufus beobachtet mein Gebärden amüsiert.
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Ich: Das Buch ist eiskalt!!
Murielle Rufus: Natürlich. Was hast du erwartet? Auf Erden gibt es nur kalten Schnee!
Ich: Ich dachte, es sei nur ein Schneeflocken-Motiv auf dem Einband. Ich habe ganz vergessen, dass die bunten Herbstblätter beim Einband der Biographie-Buches auch echt waren.
Murielle Rufus: Du hieltest es nur für ein Motiv, weil so grosse Schneeflockenkristalle auf dem Einband zu sehen sind. Du weisst, dass diese Kristalle jedoch winzig klein sind, gerade noch knapp von blossem Auge zu erkennen.
Ich: Stimmt.
Murielle Rufus: Und was lernst du daraus?
Ich: Dass alles möglich ist.
Murielle Rufus: Wenn du es für möglich hältst!
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Ich greife mit der rechten Hand nach dem Stift, der rechts neben dem noch geschlossenen Buch liegt. Wie schön, dass auch bei dieser Reise, dieser Stift mit von der Partie ist! Ich hebe mit dem Stift den Buchdeckel an und klappe ihn um. Vorsichtig prüfe ich, ob auch die Buchseiten im Innern des Buches eiskalt sind. Sie sind normal warm!
Die rote Feuerkatze hat sich etwa in der Mitte des Tisches hingesetzt, den buschigen Schwanz um die Vorderpfoten geschlungen, und beobachtet mich erneut amüsiert. Wenn andere Leute mich so beobachtet hätten, hätte mich das extrem gestört und beschämt. Doch Murielle Rufus ist ganz anders. Es ist kein Spott oder Geringsschätzung in ihren Aussagen, sondern Denkanstösse und Hilfestellungen.
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Ich: Oh, eine Tarot-Karte!
Murielle Rufus: Richtig erkannt!
Ich: Nummer 10: Das Rad des Schicksals. Habe ich diese Karte gezogen?
Murielle Rufus: Ja.
Ich: Dann habe ich wohl auch geschrieben, was da steht.
Murielle Rufus: Richtig. – Lies vor, was du geschrieben hast!
Ich: Ich nehme das Steuer selber in die Hand, lasse mich aber vom Universum voller Vertrauen durch die Höhen und Tiefen des Lebens führen.
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Liebe Grüsse
Pia
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Lieber Attila und Interessierte
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Die Reise geht weiter ...
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Kapitel 2: Die 2. Raunacht
Die Sonne scheint, aber es ist bitter kalt. Warum müssen die Raunächte ausgerechnet im Winter sein, wenn es draussen kalt ist?! Die Sonne hat noch wenig Kraft und vermag mich nur ein bisschen zu wärmen. Die Bäume tragen die auf ihren Ästen festgefrorene Schneelast mit Würde. Meine Schuhspuren vom vorangegangenen Marsch zur Zaubereiche sind im Schnee noch deutlich sichtbar. Unzählige Tierspuren kreuzen meine Schuhspur. Eine erstaunliche Aktivität in einem Winter-Wald. In mir steigt die Sehnsucht auf, wie Tiere in der Wildnis überleben zu können, auch im tiefsten Winter.
Plötzlich endet die Schuhspur. Der von den Bäumen herabfallende Schnee muss ein grösseres Stück zugedeckt haben. Und wie soll ich jetzt die Spur wieder finden, ohne mich hoffnungslos zu verirren? Wohin ich auch schaue, die Spur könnte überall weiter gegangen sein. Meine Aufmerksamkeit wird von aus dem Schnee aufsteigenden Nebel in Beschlag genommen. Auch das noch! Das hat mir gerade noch gefehlt! Ob ich besser wieder umkehren soll, bevor mich der Nebel einhüllt? Ich lasse den Blick durch den verschneiten Wald schweifen. Da mir kein Laub die Sicht versperrt, kann ich einen grossen Bereich des Waldes sehen. Mir fällt auf, dass der Nebel nur in einer um die Bäume herum kurvenden Linie aufsteigt. Wie merkwürdig! Nebel steigt doch sonst flächendeckend aus dem Boden auf!
Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen! Der Nebel steigt aus meinen Schuhspuren auf! Erleichtert setze ich mich in Bewegung. Und tatsächlich – schon nach ein paar Metern stosse ich auf die Schuhspuren. Nach ein paar Metern ist die Spur wieder vom herabgefallenen Schnee begraben. Da die Nebelspur jedoch über eine weite Strecke hin zu sehen ist, bis sie sich im Weiss des Schnees verliert, finde ich die Schuhspur jedes Mal mühelos wieder.
Schliesslich kommt die Zaubereiche in Sicht. Nebelschwaden umtanzen sie im Sonnenlicht. Einmal ist kaum etwas von der Eiche zu sehen, dann wieder haben sich die Nebelschwaden fast aufgelöst oder sinken zu Boden und verschmelzen mit dem auf dem Waldboden liegenden Schnee. Ein betörendes Schauspiel, dass mich augenblicklich in Bann schlägt.
Eine kalte Schneedusche von herabfallendem Schnee, reisst mich erbarmungslos aus diesem Bann. Ich gehe auf die Zaubereiche zu, berühre ihren Stamm mit beiden Händen und befinde mich im nächsten Augenblick in der warmen Bibliothek. Automatisch schaue ich mich nach einem Wegweiser um. Eine in der Luft schwebende, schneeweisse Flaumfeder lenkt meine Aufmerksamkeit sofort auf sich. Die Flaumfeder wirbelt den Gang entlang davon, als hätte sie bemerkt, dass sie meine Aufmerksamkeit erlangt hat. Interessanterweise ist überhaupt kein Luftzug zu spüren. Die Flaumfeder tanzt jedoch unbeirrt weiter vor mir her. Hoch hinauf bis zu Decke des riesigen Raumes, sodass sie kaum noch zu sehen ist. Dann wiederum rasend schnell, wie von einem Wirbelsturm getrieben, sodass ich ihr im Laufschritt folgen muss. Kurz darauf wieder gemütlich um mich herum. Schliesslich landet sie auf dem Tisch neben der roten Feuerkatze, die, wie üblich, auf dem geschlossenen Buch thront. Interessant, dass die Schneekristalle auf dem Einband des Buches intakt bleiben, obwohl die Feuerkatze ja aus Flammen besteht.
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Murielle Rufus: Ich grüsse dich, Pia Ursula! Wie schön dass du den Weg auch dieses Mal gefunden hast.
Ich: Ich grüsse dich, Murielle Rufus. Deine Wegweiser sind äusserst interessant.
Murielle Rufus: Abwechslung muss sein! Abwechslung versüsst das Leben! – Aber lass uns gleich beginnen! Das Thema der zweiten Raunacht lautet: Verbindung zum Höheren Selbst.
Ich: Verspricht interessant zu werden!
Murielle Rufus: Welche deiner Eigenschaften hast du dir angeeignet, um anderen zu gefallen?
Ich: Hmm! – Ständig etwas leisten zu müssen, und zwar möglichst viel in möglichst kurzer Zeit und makellos perfekt. Mit allem, was ich tue, es so zu tun, dass ich erfolgreich bin damit. Ständig die Probleme anderer lösen zu müssen, für ihr Verhalten und Handeln die Verantwortung zu tragen. Dafür zu sorgen, dass es allen gut geht. Ihnen sozusagen die Wünsche und Bedürfnisse von den Augen abzulesen, und sie augenblicklich zu erfüllen. Schuld daran zu sein, wenn es jemandem schlecht geht.
Murielle Rufus: Welche deiner Eigenschaften sind wirklich 'du'?
Ich: langsam, umsichtig, achtsam, die Menschheit retten wollen, bewegungsfreudig, immer in Gedanken, fleissig, ausdauernd, leidenschaftlich kreativ, künstlerisch begabt, humorvoll, witzig, schwermütig, melancholisch, mystisch, geheimnisvoll, hilfsbereit, schüchtern, naturverbunden, medial, verträumt, unerschöpfliche Fantasie …
Murielle Rufus: Wau, du bist ja richtig in Fahrt gekommen mit Aufzählen.
Ich: Ja. Es sprudelte nur so aus mir heraus. Ist mir jetzt auch etwas peinlich …
Murielle Rufus: Warum? Alles, was du aufgezählt hast, sprudelte aus deinem Herzen, und das bist wirklich du! Es besteht überhaupt kein Grund dich dafür zu schämen! Du bist genau richtig, so wie du bist. Das Universum wollte dich genauso haben! Für deinen weiteren Lebensweg ist es von grosser Wichtigkeit, dass du weisst, wer du wirklich bist, dass du weisst, welche Eigenschaften dich wirklich ausmachen, wenn du keine Maske einer Persona trägst, wenn du nackt bist. Zeige dich der Welt nackt, denn nur dann bist du authentisch!
Ich: Ich bemühe mich, auch wenn es mir noch etwas schwer fällt und oft viel Überwindung kostet.
Murielle Rufus: Verständlich, nach so vielen Jahren Persona. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen! Je mehr du dich darin übst, desto leichter wird es.
Ich: Hoffentlich.
Murielle Rufus: Wenn alle äußeren Erwartungen wegfallen würden – was würdest du dann mit deinem Leben tun?
Ich: Was meinst du mit äusseren Erwartungen?
Murielle Rufus: Alle Erwartungen der Gesellschaft, die an dich herangetragen werden. Alle Erwartungen, die die Gesellschaft an eine erwachsene, mündige Person automatisch hat.
Ich: Du kannst vielleicht Fragen stellen!
Murielle Rufus: Natürlich. Wie gesagt, nur knifflige Fragen bringen dich weiter.
Ich: Darüber habe ich mir, ehrlich gesagt, noch nie Gedanken gemacht.
Murielle Rufus: Dann lass uns zuerst ein paar äussere Erwartungen anschauen. Was kommt dir als erstes in den Sinn?
Ich: Äussere Erwartungen … den Lebensunterhalt verdienen, sich an Gesetze, Vorschriften und Regeln halten, auch wenn sie veraltet und unsinnig sind.
Murielle Rufus: Und weiter?
Ich: Steuern bezahlen, einen Teil des Lohnes für die Sozialversicherungen abgeben, die obligatorische Krankenkassenversicherung, einen festen Wohnsitz haben, einen Pass oder eine Identitätskarte haben.
Murielle Rufus: Gut. Was du aufgezählt hast, sind alles obligatorische „Erwartungen“. – Wie sieht es aus, wenn du dich auf eine Stelle bewirbst?
Ich: In ausführlichen Inseraten steht ein ganzes Pflichtenheft oder Erwartungsheft. Von welche Ausbildung erwünscht ist, bis zur Mithilfe an der Schulentwicklung.
Murielle Rufus: Genau.
Ich: Aber auch der klassische Werdegang eines Menschen ist in meiner Gesellschaft noch sehr präsent. 11 Jahre obligatorische Schulzeit, ein guter Abschluss, eine Berufslehre oder ein Studium, ein gut bezahlter Job bis zur Pensionierung selbstverständlich mit Karriere, eine eigene Familie mit begabten Kindern, ein Eigenheim, eine Ferienwohnung, solide Ersparnisse fürs Alter und und und …
Murielle Rufus: Sehr gut. Und nun zurück zur Frage. Was würdest du mit deinem Leben tun, wenn alle diese äusseren Erwartungen wegfallen?
Ich: Ich habe immer noch keine Antwort. Diese Frage ist so ungewöhnlich.
Murielle Rufus: Alle anderen Fragen, die ich dir stelle sind genauso ungewöhnlich. Du bist ihnen jedoch schon mindestens einmal begegnet. Diese Frage begegnet dir zum ersten Mal. Für dich sind diese äusseren Erwartungen so normal, wie das Atmen, sodass du sie als einen festen Bestandteil deines Lebens wahrnimmst, sozusagen als das natürlichste der Welt, noch natürlicher als die Natur selbst. Sie sind jedoch allesamt menschliche Konzepte.
Ich: Mein bisheriges Leben weicht vom erwarteten klassischen Werdegang eines Menschen sehr stark ab, da bei mir schlichtweg alles fehlt. Ich schätze, deshalb fühle ich mich auch als Versager und Verlierer.
Murielle Rufus: Da siehst du, welchen Einfluss diese äusseren Erwartungen auf dein Selbstbild, das du von dir hast, haben. Dabei sind es nur menschliche Konzepte, die vor langer Zeit aufgestellt wurden, als noch eine ganz andere Energie auf Erden vorherrschend war. Heutzutage ist es für Menschen kaum mehr möglich, ja für immer mehr Menschen sogar unmöglich, diesem Konzept Werdegang zu entsprechen. – Du bist weder ein Versager, noch ein Verlierer, Pia Ursula. Merk dir das! Du gibst jeden Tag dein Bestes. Und das ist immer richtig, egal, was andere darüber denken. – Also, was würdest du mit deinem Leben tun?
Ich: Du bist sehr hartnäckig!
Murielle Rufus: Ich weiss.
Ich: Ich würde nur noch tun, was sich für mich stimmig anfühlt, natürlich ohne anderen Lebewesen dabei zu schaden. Ich würde alles spielerisch angehen und viele Dinge ausprobieren, auch wenn ich keine Ausbildung dafür habe, ganz ohne Erfolgszwang. Ich würde mich immer wieder an neue Wohnorte begeben, zu Fuss in der Gegend herumstreifen …
Murielle Rufus: Aha! Fällt dir etwas auf bei deiner Antwort?
Ich: Ja. Alles, was ich aufgezählt habe, tue ich bereits oder bemühe mich, es zu tun. Ich habe mich zum Beispiel auf eine Stelle als Lehrperson für Deutsch als Zweitsprache (DaZ) in einem Kindergarten beworben, obwohl ich weder eine Ausbildung als Kindergartenlehrperson, noch eine Ausbildung als DaZ-Lehrperson habe. Es hat mich ziemlich viel Überwindung gekostet, diese Bewerbung zu schreiben, da ich mich bisher immer nur auf Stellen beworben habe, wenn ich die passende Ausbildung dazu hatte. Interessanterweise habe ich schon am nächsten Tag eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch erhalten. Ob ich die Stelle kriege, erfahre ich erst nach den Weihnachtsferien ...
Murielle Rufus: Richtig erkannt! Deshalb hattest du auch das Gefühl, keine Antwort auf diese Frage zu haben.
Ich: Das war auch keine Antwort auf deine Frage.
Murielle Rufus: Natürlich war es eine Antwort. – Verstehe! Du dachtest, es müsse etwas Abartiges, Kurioses sein, wie nackt in der Gegend herumlaufen oder auf einem anderen Planeten Urlaub machen.
Ich: Du machst dich über mich lustig!
Murielle Rufus: Nein! Niemals! Ich bin dein Krafttier! Mein Job ist es, dich zu unterstützen!
Ich: Entschuldige!
Murielle Rufus: Was ist die wichtigste Lektion, die deine Seele gerade lernen möchte?
Ich: Dass ich auch innerhalb oder trotz der äusseren Erwartungen ein authentisches Leben führen kann.
Murielle Rufus: So ist es! Sehr gut erkannt!
Ich: Danke, Murielle Rufus.
Murielle Rufus: Gerne, gerne. – Kommen wir nun zur Lektüre.
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Murielle Rufus gibt das kalte Raunacht-Buch frei und schiebt es mit beiden Vorderpfoten vor mich. Ich greife nach dem Stift zu meiner Rechten und benutze ihn, wie bei der ersten Raunacht, als Buchöffner oder vielmehr Buchaufklapper. Ich blättere auf die zweite Seite. Es ist wiederum eine Tarot-Karte abgebildet.
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Ich: Nummer 9: Der Eremit
Murielle Rufus: Lies vor, was du geschrieben hast
Ich: Ich nehme mir jeden Tag Zeit für mich. Ich ziehe mich zurück, wenn ich es für angebracht halte. Ich bleibe im JETZT und höre auf meine Intuition.
Eine sehr passende Karte, um sich mit dem Höheren Selbst zu verbinden.
Murielle Rufus: Es ist immer alles passend, was in deinem Leben geschieht, da es keine Zufälle gibt. Blättere um und liess, was du geschrieben hast!
Ich: Oh! Meine Träume stehen also auch in diesem Buch?!
Murielle Rufus: Natürlich! Träume sind in den Raunächten besonders wichtig!
Ich: Eigentlich ist es gar kein Traum. Jedenfalls kein klassischer Traum. Es war eine sehr spezielle Erfahrung.
Ich befinde mich sozusagen zwischen den Welten. Ich bin halb wach und schlafe noch so halbwegs. Ich nehme wahr, dass ich im Bett liege. Ich höre auch die Geräusche in meinem Schlafzimmer (Heizung). Die Augen sind jedoch noch geschlossen. Mein Blick ist auf die Wand mir gegenüber gerichtet. Sie ist transparent. Ich sehe in einen mir fremden Raum hinein. Es befinden sich Menschen in diesem Raum. Sie kommen zur transparenten Wand. Sie winken mir zu. Für mich liegt sofort auf der Hand, dass sie in mein Schlafzimmer sehen können. Ich erkenne in diesen Menschen, oder besser Wesen, die Figuren aus meinem Roman, den ich aktuell am schreiben bin.
Sie rufen: "Schreib weiter! Wir langweilen uns sonst!"
Die Figuren beginnen zu verblassen, da ich langsam aufwache.
Murielle Rufus: Und deine Deutung?
Ich: Ich habe keine Deutung, nur ein paar Gedanken dazu. Als ich richtig wach bin, kommt mir sofort der Film in den Sinn, in welchem Charles Dickens den Roman Scooge schreibt. Er wird während des Schreibens in der Nacht auch von seinen Romanfiguren besucht, die ihm sagen, wie er die Geschichte weiter schreiben soll.
Murielle Rufus: Nun, deine Romanfiguren fordern dich ebenfalls auf, weiter zu schreiben.
Ich: Das werde ich auch. Ich bin selber gespannt, wie die Geschichte weitergeht.
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Liebe Grüsse
Pia
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Lieber Attila und Interessierte
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Kapitel 3: Die 3. Raunacht
Ich bin erneut auf dem Weg zur Zaubereiche. Trotz herrlichem Sonnenschein ist es immer noch bitterkalt. Nun muss ich den bequemen Waldweg verlassen und mich querwaldein zur Zaubereiche durchschlagen. Die den Waldboden liebkosenden Sonnenstrahlen verraten mir, dass die Schneeoberfläche zu einer Eisschicht geworden ist. Es fühlt sich an, wie wenn ich neben einem Gletscher, anstatt in einem Wald stehen würde. In meinen Beinen und Füssen macht sich augenblicklich dieses unangenehme Kribbeln bemerkbar, das immer dann auftaucht, wenn ich auf dem Weg zum Bahnhof eine vereiste Stelle auf dem Gehsteig oder auf einem Parkplatz überqueren muss. Auf dem Gehsteig kann ich mich jeweils wenigsten am Gartenzaun oder an den angrenzenden Sträucher festhalten. Doch hier hat es weder Sträucher noch Gartenzäune. Selbst die mit Schnee beladenen, herabhängenden Äste sind keine Hilfe, da die Bäume viel zu weit auseinander stehen, als dass ich mich von Ast zu Ast hätte hangeln können.
Tja, ich habe genau zwei Möglichkeiten. Entweder umkehren oder auf den Knien auf allen Vieren über die vereiste Oberfläche zur Zaubereiche kriechen, oder wenn die Eiskruste zu dünn ist, sogar nach Pinguin-Art auf dem Bauch. Ich entscheide mich, den Weg fortzusetzen, schaue mich jedoch automatisch nach unerwarteten menschlichen Beobachtern um. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Kümmert es Pinguine, was andere von ihrer Fortbewegungsmethode halten?! Lieber auf dem Bauch über das Eis schlittern, als sich bei einem Sturz in aufrechtem Gang die Knochen brechen, nur weil ich gut dastehen will.
Ich lasse mich auf die Knie nieder und betrete auf allen Vieren die Eisfläche. Sie scheint stabil zu sein. Das könnte ein ziemlich anstrengender Kniemarsch werden. Ein tiefer Seufzer entrinnt meiner Brust. Fest entschlossen auch diese Raunacht in der Bibliothek zu verbringen, setze ich mich in Bewegung.
Bevor ich richtig begreife, was da geschieht, schiebt mich eine unsichtbare Kraft von hinten. Ich gleite über die Eisfläche, wie wenn ich auf einem Schlitten knien würde. Die Fahrt wird immer rasanter. Die Baumstämme flitzen nur so an mir vorbei. Ich ziehe unwillkürlich den Kopf ein, merke jedoch schnell, dass dazu überhaupt kein Grund besteht. Die unsichtbare Kraft schiebt mich trotz hoher Geschwindigkeit, präzise zwischen den Baumstämmen hindurch. Die Wahrscheinlichkeit, mit einem Baumstamm zusammenzustossen schrumpft auf Null.
Ich geniesse diese Schlittenfahrt immer mehr. Und jetzt kommt das Beste, sozusagen das i-Tüpfelchen auf dem i. Immer wieder versperren tief herabhängende Äste den Weg. Anstatt diesen Ästen auszuweichen, schiebt mich die Kraft über die Äste hinweg. Nach einem kurzen Flug durch die Luft lande ich wohlbehalten sanft auf dem Eis. Wie geil ist dass denn! Entschuldigung für den wullgähren Ausdruck. Die unsichtbare Kraft weiss das Schanzenspringen jedoch noch zu toppen, indem sie die herabhängenden Äste, wie die Kurven einer Eisbobbahn, nutzt. Ein Glück, dass es für diese Fahrt keine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt. Ich kurve mit gefühlten hundert Sachen durch den Wald.
Plötzlich taucht vor mir die mächtige Zaubereiche auf. Noch ist sie ein ganzes Stück entfernt. Doch bei dieser Geschwindigkeit kommt sie rasend schnell näher. Instinktiv versuche ich, den Kurs zu ändern. Doch vergeblich! Die unsichtbare Kraft bestimmt den Kurs. Mir bleibt nur, geschehen zu lassen! Ich schliesse die Augen und erwarte in der nächsten Sekunde den Aufprall auf den Eichenstamm. Doch als nach einigen Sekunden immer noch kein Zusammenstoss erfolgt ist, öffne ich langsam die Augen.
Zu meinem Erstaunen befinde ich mich in der Bibliothek!
Es dauert eine Weile, bis ich in der Lage bin, aufzustehen. Die rasante Bobfahrt steckt mir noch in den Knochen.
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Murielle Rufus: Und? Wie hat dir die Fahrt zur Bibliothek gefallen?
Ich: Murielle Rufus!
Murielle Rufus: Höchst persönlich! – Ich dachte, ich hole dich wieder einmal ab.
Ich: Danke! – Die Fahrt war übrigens sehr spektakulär und der Eintritt in die Bibliothek sehr originell.
Murielle Rufus: Das Leben ist immer spektakulär und originell – sofern du es zulässt, es ihm sozusagen gestattest.
Ich: Ehrlich gesagt, ist mir mein Leben im Moment etwas zu spektakulär und zu originell! Ich hätte es gerne etwas ruhiger.
Murielle Rufus: Dann mach es dir ruhiger! Du hast es in der Hand!
Ich: Und wie?
Murielle Rufus: Indem du dir Ruhe gönnst, deine endlosen To-Do-Listen auf das Notwendigste verkürzt, indem du nur das tust, was dir in diesem Moment Spass macht, indem du dir auch für grosse künstlerische Projekte die Zeit nimmst, ohne dir eine Deadline zu setzen.
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Die rote Feuerkatze wendet sich ab und schreitet mit senkrecht in die Luft gestrecktem Schwanz vor mir her. Schon nach zwei Mal links abbiegen, kommt der Tisch in Sicht. Murielle Rufus springt auf den Tisch und platziert sich auf dem Schneekristallbuch. Der buschige Schwanz peitscht ungeduldig die Tischplatte. Ich nehme Platz.
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Ich: Das war aber ein sehr kurzer Weg zum Tisch!
Murielle Rufus: Wir wollten ja keinen Rundgang durch die Bibliothek machen, sondern uns mit dem Thema dieser Raunacht befassen! – Und nun lass uns loslegen. Thema der dritten Raunacht ist Säuberung und Reinigung.
Ich: Hört sich ziemlich rabiat an.
Murielle Rufus: Was trägst du mit dir herum, das dich schwer macht?
Ich: Ich mache mir viel zu viele Gedanken oder besser gesagt, Sorgen, über meine Zukunft.
Murielle Rufus: Welche Dinge in deinem Leben fühlen sich im Moment wie Ballast an?
Ich: Meine schon fast chronische Antriebslosigkeit und Lustlosigkeit.
Murielle Rufus: Alles hat seine Zeit.
Ich: Du hast gut reden! Wann ist es endlich vorbei? Ich möchte in meiner Freizeit so vieles tun, doch mir fehlt schlichtweg die Energie. Die Begeisterung und Tatkraft flackert nur einen kurzen Moment auf und erlöscht dann wie eine Kerzenflamme im Wind.
Murielle Rufus: Es ist dann „vorbei“, wenn es „vorbei“ ist. Nimm diese Antriebslosigkeit und Lustlosigkeit an! Umarme beide und betrachte sie als wertvolles Geschenk. Ich weiss, das ist leichter gesagt als getan. Überlege dir, welchen Nutzen, welchen Vorteil dir diese Antriebslosigkeit und Lustlosigkeit bringt?
Ich: Welchen Nutzen, welchen Vorteil …
Murielle Rufus: Ja! Jede Situation, jedes Ereignis, jedes Gefühl bringt dir einen Nutzen, einen Vorteil. Du musst ihn nur sehen lernen.
Ich: Na ja, ich liege im Bett oder sitze auf der Coach und führe intensive Gespräche mit der geistigen Welt.
Murielle Rufus: Mit anderen Worten: Du reflektiert im Moment intensiv dein bisheriges Leben und gönnst dir gleichzeitig körperliche Ruhe. In dieser hektischen, schnelllebigen Zeit, ist körperliche Ruhe ganz besonders wichtig. Deine Antriebslosigkeit und Lustlosigkeit erleichtern dir folglich die körperliche Ruhe. Beide dienen somit auch deiner Gesundheit. Durch die Gespräche mit der geistigen Welt, verschaffst du dir auch Klarheit über deine Ziele. Wo soll deine Reise hingehen? Du lernst dich aber auch immer besser kennen. Bisher kanntest du nur deine Persona.
Ich: Von dieser Seite habe ich es noch gar nie gesehen.
Murielle Rufus: Deshalb führen wir beide jetzt dieses Gespräch. Jetzt hast du das Geschenk der Antriebslosigkeit und Lustlosigkeit erkannt.
Ich: Ja! Und jetzt ist es mir auf einmal egal, wie lange dieser Zustand noch andauert, ob er überhaupt je enden wird.
Murielle Rufus: Er wird enden. In der materiellen Welt hat alles einen Anfang und ein Ende, auch Gefühlszustände. Sie halten solange an, wie du sie festhältst oder wie du sie für deine Weiterentwicklung brauchst.
Ich: Danke, Murielle Rufus!
Murielle Rufus: Gerne, gerne. – Was fühlt sich noch als Ballast an?
Ich: Der finanzielle Druck.
Murielle Rufus: Auch hier gilt: umarme ihn! Akzeptiere ihn! Heisse ihn willkommen! Erlaube ihm hier zu sein! Begegne ihm, indem du im JETZT lebst, denn Morgen kann er schon verschwunden sein! Du betrachtest dein zukünftiges Leben immer aus deiner jetzigen finanziellen Situation heraus, als wäre sie in Stein gemeisselt, und somit unveränderbar. Erinnere dich: Was du dringend brauchst, erscheint immer zum genau richtigen Zeitpunkt in deinem Leben!
Ich: Das Urvertrauen ist gefragt.
Murielle Rufus: So ist es!
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Die rote Feuerkatze erhebt sich und schmiegt ihren Körper an meine linke Schulter. Der buschige Schwanz liebkost mein Gesicht. Murielle Rufus beginnt zu schnurren. Dieses Schnurren dringt tief in meinen Körper ein. Eine wohlige Wärme breitet sich in meinem ganzen Körper aus. Ich streiche der roten Feuerkatze mit der rechten Hand sachte über das seidenweiche Fell. Ich staune jedes Mal wieder, dass sich unter, oder besser gesagt, in den Flammen, die den Katzenkörper umgeben, dieses seidenweiche Fell verbirgt – und, dass ich sie überhaupt anfassen kann, ohne mir die Finger zu verbrennen.
Die rote Feuerkatze lässt ihren buschigen Schwanz unter meinem Kinn durch gleiten und begibt sich wieder an ihren Platz.
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Murielle Rufus: Mit welchen Menschen oder Situationen fühlst du dich noch unversöhnt?
Ich: Mit mir selbst. Ich nehme mir jeden Abend vor, am nächsten Tag früh zu Bett zu gehen und früh aufzustehen. Ich scheitere sozusagen jeden Tag daran. Es macht sich dann eine erdrückende Unzufriedenheit in mir breit.
Murielle Rufus: Das liegt daran, dass auf dir immer noch der Druck, jeden Tag so und so viel leisten zu müssen, lastet. Du verbietest dir schlichtweg, früh zu Bett zu gehen. Am nächsten Morgen haben die Antriebslosigkeit und die Lustlosigkeit die Oberhand, was dich veranlasst, lange im Bett liegen zu bleiben. Gegen Abend gewinnt wieder der Leistungsdruck mehr und mehr die Oberhand. Du versuchst wett zu machen, was du durch das länger im Bett bleiben versäumt hast.
Ich: Und was kann ich dagegen tun?
Murielle Rufus: Etwas dagegen tun, bedeutet immer Kampf. Wenn du dich gegen etwas wendest, verstärkst du nur seinen Widerstand, seine Macht.
Ich: Okay! Anders gefragt: Wie soll ich vorgehen?
Murielle Rufus: Zuerst einmal, akzeptiere, dass diese beiden Energien da sind. Umarme sie! Heisse sie willkommen! Dann versöhne die beiden Energien miteinander!
Ich: Versöhnen?
Murielle Rufus: Richtig! Versöhne sie miteinander! Das ist sehr wichtig.
Ich: Und wie?
Murielle Rufus: Indem ihr euch zu dritt an einen Tisch setzt und ein Gespräch führt. Du moderierst dieses Gespräch. Das ist ganz wichtig!
Ich: Mit ihnen ein Gespräch führen …
Murielle Rufus: Sehr richtig! Ein Gespräch führen! Du kannst mit jeder existierenden Energie ein Gespräch führen! Sei es eine materialisierte Energie, wie du und ich, oder eine körperlose Energie, wie Engel oder eben Gefühle. Wenn es dir hilft, kannst du dir beide Energien ja in einer menschlichen Gestalt vorstellen. Wichtig ist, dass du beiden Energien Raum gibst. Du entscheidest, welche Energie, wie lange auf der Bühne stehen darf. Einmal stehen beide Energien gleichlange auf der Bühne, einmal steht die eine etwas länger auf der Bühne, dann wieder die andere. Je nach deinen augenblicklichen Bedürfnissen. Irgendwann halten sie sich ohne dein Zutun von selbst das Gleichgewicht, weil sich beide von dir geliebt und geachtet fühlen.
Ich: Wau, ich bin platt! Vielen Dank, Murielle Rufus!
Murielle Rufus: Gerne, gerne! – Kommen wir nun zur Lektüre!
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Die rote Feuerkatze verlässt ihren Thron, streckt und reckt sich nach Katzenart und schiebt mir das Schneekristallbuch zu. Noch bevor ich nach dem Stift greifen kann, tippt Murielle Rufus mit der rechten Vorderpfote auf den Buchdeckel. Das Buch springt auf und blättert wie wild die Seiten um, sodass mir vom Zusehen schwindlig wird. Das Buch beruhigt sich nach und nach und bleibt schliesslich auf der dritten Seite aufgeschlagen vor mir liegen. Wieder ist eine Tarot-Karte abgebildet.
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Ich: Nummer 12: Der Gehängte.
Murielle Rufus: Liess vor, was du geschrieben hast!
Ich: Bin ich ehrlich zu mir selbst? Lebe ich, was ich erkannt habe? Perspektivenwechsel, um die Wahrheit erkennen zu können.
Murielle Rufus: Passt perfekt zum Thema Säuberung und Reinigung! Die Karte fordert dich auf, zu hinterfragen, was du über dich denkst. Sie hilft dir zu erkennen, ob wirklich zutriffst, was du über dich denkst. Entspricht dein Selbstbild wirklich der Wahrheit? Bist du wirklich ein Versager und Verlierer? Bist du wirklich ein Prahlhans, wenn du deine Stärken, Talente und besonderen Eigenschaften aufzählst? Oder wurde dir das nur gesagt, um dich klein zu halten?
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Die rote Feuerkatze nutzt die eintretende Schweigepause zu einer weiteren Liebkosung. Ihr Schnurren dringt wieder tief in meinen Körper ein. Ein wunderbares Gefühl!
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Murielle Rufus: Blättere nun die Seite um!
Ich: Zwei Träume!
Murielle Rufus: Liess vor!
Ich: Traum 1: Dieselbe Situation, wie im Traum der zweiten Raunacht. Ich sehe wieder durch die transparente Wand in einen mir fremden Raum. Dieses Mal befinden sich sehr viele Leute im Raum. Sie drehen sich alle, wie auf ein Kommando, zur transparenten Wand und kommen näher. Ich erkenne sie als Protagonisten und Protagonistinnen aus Geschichten, die ich gelesen oder als Hörbuch gehört habe, oder aus Filmen, die ich geschaut habe. Sie reden alle durcheinander und halten beschriebene Transparente in die Luft, wie Demonstranten bei einer Demonstration auf der Strasse. Für mich geben die Worte und Texte auf den Transparenten jedoch keinen Sinn. Es scheint mir so, als wären Buchstaben in beliebiger Reihenfolge aneinander gereiht worden. Auch diese Figuren beginnen zu verblassen, je wacher ich werde.
Murielle Rufus: Deine Deutung?
Ich: Die Texte auf den Transparenten könnten eine Aufforderung sein, mich mehr meinen eigenen Romanfiguren zu widmen, als mir die Geschichten und Filme anderer Autoren anzusehen.
Murielle Rufus: Und?
Ich: Als ich meine beiden ersten Romane geschrieben habe – damals wohnte ich noch bei meinen Eltern – habe ich weder Romane gelesen, noch mir Spielfilme angeschaut. YouTube war mir damals noch unbekannt und Fernsehen war uninteressant, langweilig. Ich habe festgestellt, wenn ich Hörbücher höre oder mir Spielfilme anschaue, nehmen mich diese Romanfiguren in Beschlag. Ich studiere dann ständig an dieser Geschichte herum. Sie sind für mich keine Inspiration, sondern genau das Gegenteil. In mir macht sich der Gedanke breit, dass mein aktueller Roman nur Schrott ist, völlig unbrauchbar.
Murielle Rufus: Das kommt daher, weil dir in der Schule immer vorgeschrieben wurde, worüber du in Aufsätzen zu schreiben hast. Du durftest deine unbändige Fantasie nie ausleben. Irgendwann hast du selbst sie als Schrott deklariert. Auch hier hilft die der Gehängte zu erkennen, dass es Schrott ist, was du über deine unbändige Fantasie denkst. Sie ist ein grosses Geschenk!
Ich: Ich werde meiner unbändigen Fantasie in meinen Geschichten Raum geben, versprochen!
Murielle Rufus: Das hör ich gern! – Liess nun den zweiten Traum vor!
Ich: Traum 2: Ich befinde mich in einem unterirdischen Tunnellabyrinth. Ich bin alleine und irre schon eine gefühlte Ewigkeit in diesen feuchten, muffigen Gewölben umher. Ich friere. Ein mulmiges Gefühl macht sich im meinem Magen breit. Ich hege wenig Hoffnung, dass ich je wieder aus diesem Tunnellabyrinth herausfinden werde. Im Tunnellabyrinth herrscht ein schummriges Licht, sodass ich wenigstens etwas sehen kann.
Plötzlich taucht ein grosses, fast schwarzes Pferd im Tunnel auf, den Kopf gegen mich gerichtet. Ich gehe langsam auf das Pferd zu. Seine Ohren drehen sich in meine Richtung. Es schnaubt leise. Ich bleibe einen Schritt von ihm entfernt stehen und strecke ihm die rechte Hand entgegen, damit es mich beschnuppern kann. Das Pferd drückt die weichen Nüstern an meine Hand und lädt mich damit ein, näher zu treten. Ich streiche dem Pferd mit der rechten Hand über die Stirn. Danach trete ich noch näher heran und lege ihm die Arme um den Hals. Mein Gesicht wird von der dichten Mähne verdeckt. Ich fühle mich geborgen und in Sicherheit.
Murielle Rufus: Und deine Deutung?
Ich: Das Tunnellabyrinth könnte mein bisheriges Leben symbolisieren. Das Pferd könnte ein Symbol für Helfer und Führer aus der geistigen und physischen Welt sein, die mich aus dem Labyrinth herausführen werden, und meiner Odyssee somit ein Ende machen.
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Liebe Grüsse
Pia
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Lieber Attila und Interessierte
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Kapitel 4: Die 4. Raunacht
Einmal mehr bleibe ich auf dem bequemen Waldweg stehen, um mich auf das bevorstehende Querwaldein vorzubereiten. Ich bin etwas angespannt. Wie gelange ich wohl dieses Mal zur Zaubereiche? Ich schaue mich nach allen Seiten um. Kein Geräusch ist zu hören. Immer noch liegt viel Schnee. Die Sonnenstrahlen wärmen meinen Körper. In der Ferne klopft ein Specht einen Baumstamm ab. Eine Amsel zettert.
Dann auf einmal wird es dunkel. Ich schaue automatisch nach oben. Dunkle, fast schwarze Wolken haben sich in windeseile vor die Sonne geschoben und die wärmenden Strahlen aus dem Wald verbannt. Schneeflocken rieseln still auf mich herab. Mit jeder verstrichenen Sekunde wird der Schneefall dichter und die Schneeflocken grösser. Schon nach wenigen Minuten ist der Schneefall so dicht, dass ich nur noch weiss um mich herum sehen kann.
Wind kommt auf. Zuerst nur ein sanftes Lüftchen, dass mir fast zärtlich über die kalten, nassen Wangen streift. Das sanfte Lüftchen wird binnen Sekunden zu einem ausgewachsenen Orkan. Ich lasse mich erschrocken auf die Knie in den mindestens 30 cm hohen Neuschnee fallen. Doch der Wind zerrt mich erbarmungslos an den Armen hoch und hebt mich in die Luft. Ich werde ein paar Mal im Uhrzeigersinn um die Längsachse gedreht, dann, bevor mir schlecht wird, ein paar Mal im Gegenuhrzeigersinn. Der Orkan treibt mich zwischen den Baumstämmen hindurch, um die Bäume herum, dann spiralförmig nach oben um die Baumkrone herum und beim nächsten Baum wieder spiralförmig nach unten. Erstaunlich, dass ich immer noch aufrecht stehe, den Kopf nach oben. Obwohl ich jederzeit gegen einen Baumstamm klatschen oder an einem Ast hängenbleiben könnte, verspüre ich kein bisschen Angst. Diese Sturmfahrt beginnt mir sogar Spass zu machen!
Der Orkan schiebt mich erneut spiralförmig um eine Tanne herum nach oben. Plötzlich befinde ich mich im hellen Sonnenschein, über den Baumkronen des Waldes, wie wenn ich den Hochnebel durchstossen hätte. Keine einzige Schneeflocke mehr! Wind still. Ich stehe bewegungslos in der Luft! Wie kann das sein? Eigentlich müsste ich doch in die Tiefe stürzen! Es fühlt sich jedoch an, als würde ich auf dem Boden stehen.
Schliesslich wage ich einen Blick auf meine Schuhe! Vor erstaunen klappt mir der Unterkiefer herunter.
Ich stehe auf einem Schneekristall von etwa einem Meter Durchmesser!
Aber es geht noch weiter. An meinem rechten und an meinem linken Unterarm, oder besser gesagt, an meiner Jacke, haftet je ein Schneekristall von etwa 30 cm Durchmesser. Diese beiden Schneekristalle ermöglichten es mir, im Schneesturm aufrecht zu stehen! Sie stützen mich!
Mein Blick schweift in die Tiefe unter meinen Füssen. Im Wald tobt noch immer der Schneesturm! Wie seltsam! Wie befremdlich! Es widerspricht jeglicher Logik.
Ein leichtes Rucken unter meinen Schuhen holt mich in den Augenblick zurück. Der grosse Schneekristall hat sich in Bewegung gesetzt. Die Sonnenstrahlen dringen durch den bizarr geformten und zugleich filigranen Schneekristall hindurch und lassen unter mir über den Baumkronen einen Regenbogen entstehen. Ein atemberaubendes Schauspiel! Ich liebe Regenbogen!
Der Schneekristall kurvt etwa drei Meter oberhalb der Baumkronen herum, als würde er einem unsichtbaren Weg folgen. Im Wald schneit es noch immer.
Ich richte meinen Blick gerade aus. In weiter Ferne ragt eine Baumkrone weit über die anderen Bäume heraus. Das muss die Zaubereiche sein! Aus der Vogelperspektive gesehen, scheint der Wald unter mir unendlich gross zu sein. Die Zaubereiche scheint mehrere Tagesmärsche weit entfernt zu sein.
Ich mache mich auf eine längere Reise zur Zaubereiche gefasst und lasse den Blick wieder in die Tiefe schweifen. Der Schneekristall gleitet nur in einem sehr gemächlichen Tempo durch die Luft. Der Regenboden folgt uns, wie dies bei Regenbogen so üblich ist. Der immer noch im Wald tobende Schneesturm versperrt mir die Sicht in den Wald hinein. Also richte ich den Blick wieder nach vorne und hätte vor Schreck beinahe geschrien!
Die mächtige Krone der Zaubereiche steht wie eine grüne Wand vor mir!
Ich bin sprachlos und kann nur noch staunen! Der Schneekristall unter meinen Schuhen stoppt und steigt, wie ein Lift, langsam senkrecht nach oben. Im Laubwerk der Zaubereiche sitzen unzählige Vögel und zwitschern, während weiter unten Schnee fällt und vom Wind um die kahlen Äste herumgewirbelt wird.
Der Schneekristall stopp erneut und bewegt sich waagrecht ins Geäst der Zaubereiche hinein. Bevor ich mir Gedanken darüber machen kann, was als Nächstes geschehen könnte, sause ich nach unten. Die Schneekristalle haben mich fallen gelassen! Belaubte Äste sauen dicht an mir vorbei! Im nächsten Augenblick befinde ich mich in der Bibliothek, einen aufgespannten Regenschirm in der rechten Hand halten. Ich schwebe langsam von der Decke zwischen zwei Bücherregalen auf den Fussboden zu und lande in einem Holzruderboot! Mary Poppins lässt grüssen!
Kaum sitze ich auf der Ruderbank, setzt sich das Boot in Bewegung. Es kurvt gemächlich durch das Bücherregal-Labyrinth. Die Fahrt dauert ziemlich lange. Die unzähligen in den Bücherregalen aufgereihten Bücher bringen mich immer wieder zum Staunen. Woher sie wohl kommen? Wer sie wohl geschrieben hat? Was sie wohl beinhalten?
Das Boot stoppt beim Tisch. Ich steige aus. Murielle Rufus wartet bereits, auf dem Schneekristallbuch sitzend, auf mich. Das Boot fährt weiter und verschwindet zwischen zwei Bücherregalen. Ich setze mich an den Tisch.
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Murielle Rufus: Und? Wie war dieses Mal die Reise hierher?
Ich: Abgefahren und sehr gewöhnungsbedürftig. – Wie kann ein Boot ohne Wasser fahren?
Murielle Rufus: Gut! – Denn genauso ist das Leben. Doch sobald du die neuen Umstände akzeptiert und dich an sie gewöhnt hast, macht das Leben Spass.
Ich: Davon, dass das Leben Spass macht, habe ich bisher nur wenig gespürt.
Murielle Rufus: Das kommt daher, dass du die Umstände zuerst akzeptieren lernen musst. – Aber nun lass uns beginnen! Das Thema der vierten Raunacht: Das verletzte innere Kind.
Ich: Ich habe mir schon gedacht, dass dieses Thema noch auftauchen wird.
Murielle Rufus: Das hört sich nach sehr wenig Begeisterung an!
Ich: Stimmt! Ich weiss aber, dass es wichtig ist, mich damit zu befassen! In meinem aktuellen Roman ist deshalb das Innere Kind entsprechend ein grosses Thema.
Murielle Rufus: Sehr gut! – Kommen wir nun zur ersten Frage: Was möchtest du heute nachholen, was damals zu kurz kam?
Ich: Ich liebe es, Dinge zu tun, die keinem eigentlichen Zweck dienen, die man sogar als nutzlos und sinnlos bezeichnen könnte. Fliessbandarbeit ohne Nutzen.
Murielle Rufus: Zum Beispiel?
Ich: Pixelbilder! Ich bin schon am dritten Bild! Ich finde es toll, dass die Möglichkeit besteht, von eigen Fotos Pixelbilder erstellen zu können. Ich habe viele Fotos, die sich dafür eignen. Ich liebe es, diese kleinen Würfelchen von 2 mm Seitenlänge mit der Pinzette auf eine Platte zu stecken. Richtige Fliessbandarbeit! Total unkreativ!
Murielle Rufus: Unkreativ?
Ich: Ja. Der Computer wandelt das Foto in Pixel um und berechnet die Farben. Der Computer erstellt auch die Vorlage mit den entsprechenden Farben.
Murielle Rufus: Aber du musst die Pixel an der richtigen Stelle auf der Platte platzieren. Dazu bedarf es Konzentration, Fingerspitzengefühl und handwerkliches Geschick. Es braucht zudem viel Ausdauer, da das Bild 20 Platten à 2'000 Pixel umfasst. – Übrigens, einen Fingerhut für das Festdrücken der Pixel umzufunktionieren, ist kreativ!
Ich: Und was soll ich nachher mit den Bildern machen?
Murielle Rufus: Sie aufhängen! Sie verkaufen!
Ich: Verkaufen? Niemand interessiert sich für Pixelbilder!
Murielle Rufus: Da könntest du dich täuschen! Wie gesagt, diese Art Bilder erfordern Konzentration, handwerkliches Geschick und Ausdauer. – In dir ist immer noch die Überzeugung fest verankert, dass das, was dir locker von der Hand geht, allen anderen ebenfalls locker von der Hand geht. Und – dass es alle anderen mindestens zehn Mal besser können als du. Dadurch verkennst du deine Talente und schaust dich als völlig wertlos an. Doch du bist wertvoll, Pia Ursula! Deine Talente sind wertvoll und einzigartig!
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Eine kurze Pause tritt ein.
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Murielle Rufus: Welche schöne Erinnerung aus deiner Kindheit gibt dir heute noch Kraft?
Ich: Das Baden in der Emme!
Murielle Rufus: Die Emme?
Ich: In der Schweiz gibt es nur Gebirgsbäche, Voralpenbäche und Voralpenflüsse und keine so grossen Ströme, wie in Deutschland, Russland und anderen Ländern, die zum Teil so breit sind, dass man kaum das andere Ufer sehen kann. Die Emme ist ein Voralpenbach im Emmental (um die zwanzig Meter breit), genaugenommen ein Wildbach, den die Menschen zu zähmen versuchten, indem sie in gewissen Abständen zum Teil mehrere Meter hohe Schwellen einbauten, um den Wasserfluss zu verlangsamen. In meiner Kindheit gingen wir im Sommer anstatt in ein öffentliches Schwimmbad häufig am Sonntag an die Emme. Eigentlich müsste ich schreiben in die Emme, da wir uns auf einer trocken gefallenen Kiesbank im Bachbett aufhielten. Denn im Sommer führte die Emme in der Regel nur wenig Wasser.
Murielle Rufus: Kannst du dich erinnern, wie es dort roch?
Ich: Es roch nach Emme. Dieser Geruch setzte sich aus dem Geruch nach feuchtem Sand, nach Wasser und nach Fisch zusammen. Ich habe mich schon damals gefragt, warum Süsswasser, im Gegensatz zu Meerwasser, nach Fisch riecht, auch wenn in Wildbächen kaum Fische vorhanden sind.
Murielle Rufus: Kannst du dich an die Temperatur erinnern?
Ich: Wir sind immer gegen neun Uhr vor Ort gewesen. Am Morgen war es noch angenehm kühl, da die Bäume und Sträucher am Ufer ihren Schatten ins Bachbett warfen. Um die Mittagszeit, wenn die Sonne hoch am Himmel stand, heizte sich die Steine der trocken gefallene Kiesbank sehr stark auf, sodass wir uns in den Schatten unter die Bäume und Sträucher, dicht am Ufer zurückziehen mussten. Nach einem Bad im sehr kalten fliessenden Wasser jedoch, konnten wir uns prima auf den warmen Steinen wieder aufwärmen.
Murielle Rufus: Was kannst du mir über die Natur bei der Emme erzählen?
Ich: Dem Ufer der Emme folgte auf einem künstlichen Damm der Wanderweg. Um ins Bachbett zu gelangen, mussten wir die steile Uferböschung hinuntersteigen. An der Stelle, die wir uns ausgesucht hatten, gab es einen schmalen Pfad ins Bachbett hinunter, der vermutlich von den Fischern angelegt wurde. Sonst wäre es sehr schwierig gewesen, ins Bachbett zu gelangen, da das Ufer auf beiden Seiten dicht mit Sträuchern, Weiden, Birken, Erlen, Eschen … bewachsen war. Auf der Kiesbank wuchsen stellenweise jungen Birken, Gras und sogar Löwenzahn. Die Birken hatten offenbar das Hochwasser überstanden, ohne weggerissen zu werden. Im Wasser hatte es auf der gegenüberliegenden Uferseite, wo das Wasser etwas tiefer war, Wasserpflanzen, die sich in der Strömung rhythmisch bewegten. Ich habe mich von diesen Wasserpflanzen, vermutlich Algen, immer gefürchtet und es vermieden, das Wasser an dieser Stelle zu betreten. Grössere, sich ständig im Wasser befindende Steine waren mit einem Algenteppich überzogen und sehr schlüpfrig, wie ein Fisch.
Murielle Rufus: Erinnerst du dich an Geräusche?
Ich: Hinter dem Damm mit dem Wanderweg, befand sich eine Eisenbahnlinie. In der Nähe unseres Badeplatzes befand sich ein unbewachter Bahnübergang. Das hatte zur Folge, dass der Zug jedes Mal pfiff, wenn er sich dem Bahnübergang näherte.
Unser Badeplatz befand sich zwischen zwei mindestens fünf Meter hohen Schwellen. Wir waren der unteren Schwelle etwas näher, sodass das monotone Geräusch des über die Schwelle hinunterstürzenden Wassers ständig zu hören war. Wenn ich mich im Wasser befand, hörte ich trotz dem lauten Geräusch des über die Schwelle hinunter stürzenden Wassers auch das gurgelnde Geräusch des fliessenden Wassers.
Vogelgezwitscher war ebenfalls ständig zu hören. Die Sänger waren im dichten Laubwerk der Sträucher und Bäume jedoch nur selten auszumachen.
Hin und wieder war auch das Propellergeräusch eines Zweimotorigen Flugzeuges oder die Stimmen von vorbeigehenden Wanderern und das Bellen eines Hundes zu hören oder das Hufgetrappel von Reitern.
Murielle Rufus: Kamen auch andere Leute auf diese Kiesbank?
Ich: Wir waren immer alleine auf der Kiesbank. Manchmal standen ein oder zwei Fischer oberhalb der Schwelle im Wasser und angelten im Wiederwasser unterhalb der Schwelle. Einmal kam eine Gruppe junger Erwachsener. Sie sprangen jedoch nur von der Schwelle ins Wiederwasser hinunter und verschwanden danach wieder. Mein Bruder und ich mussten uns immer von der Schwelle fernhalten, da die Strömung in der Nähe der Schwelle sehr stark war und uns mitgerissen hätte. Den Sturz über die Schwelle hinunter hätten wir sicher überlebt, da das Wiederwasser tief genug war. Doch dem Wiederwasser wieder zu entkommen, wäre sicher sehr schwierig für uns gewesen, da es sehr viel Kraft braucht.
Da wir nie zu nahe an die obere und die untere Schwelle heran durften, habe ich nie Fische (grösstwahrscheinlich Forellen) gesehen. Einmal sah ich in der Nähe des Wiederwassers der oberen Schwelle einen Fischreiher.
Murielle Rufus: Wie genau fühlst du dich auf dieser Kiesbank in der Emme?
Ich: Ich fühlte mich immer wie im siebten Himmel. Ich habe die Zeit und alles um mich herum vergessen. Es fühlte sich an, wie wenn ich durch ein Portal eine andere Welt betreten hätte. Ich wäre gerne jeden Tag hingegangen, doch mein Wohnort lag eine Stunde Autofahrt entfernt.
Murielle Rufus: Was hast du während des Aufenthaltes auf der Kiesbank getan?
Ich: Verschiedenes! Ich watete ins kalte, rasch fliessende, jedoch nur seichte Wasser hinein, setzte mich hin. Nach einer Weile drehte ich mich, den Kopf stromaufwärts, auf den Bauch und zog mich, mit den Händen nach den Steinen greifend stromaufwärts. Das war sehr anstrengend. Immer wieder schwappte mir dabei Wasser ins Gesicht. Im etwas tieferen Wasser liess ich mich ein Stück stromabwärts treiben. Da das Wasser sehr kalt war, hielt ich mich immer nur kurze Zeit darin auf. Auf den von der Sonne aufgewärmten Steinen auf der Kiesbank legte ich mich auf den Bauch und liess den Badeanzug trocknen.
Einmal kam ich auf die ungeschickte Idee, mit Brille gegen den Strom zu tauchen. Mit dem Resultat, dass mir die starke Strömung die Brille von der Nase riss und mit sich forttrug. Meine Bemühungen, die Brille einzuholen und aus dem Wasser zu fischen, blieben erfolglos, da ich zu nahe an der Schwelle war. Meine Mutter hat alles mit Fassung getragen. Den Rest des Tages musste ich jedoch ohne Brille zubringen, was alles andere als gemütlich war, da ich ohne Brille kaum etwas sehe.
Mein Bruder und ich bauten am Rand der Kiesbank eine Rinne und leiteten das Wasser in die von uns gebaute Rinne. Oder wir suchten möglichst flache, handliche Steine und liessen sie übers Wasser hüpfen. Es gab auch immer wieder Schwemmholz, zum Teil grosse Bäume, die nach dem Hochwasser auf der Kiesbank abgelagert wurden, und zum balancieren und klettern einluden.
Ich liebte es, in eine leere Limonade-Flasche (damals waren sie noch aus Glas) kleine, farbige Kieselsteine zu füllen. Die Farben der Kiesel waren jedoch nur zu sehen, wenn sie nass waren. Zu Hause habe ich zwar immer wieder frisches Wasser in die Flasche eingefüllt. Die Kieselsteine überzogen sich jedoch mit der Zeit mit einer schlüpfrigen Schicht.
Murielle Rufus: Wie hast du dich auf der Kiesbank bewegt?
Ich: Da auch abgerundete Kieselsteine für nackte Füsse unangenehm sind, trug ich immer alte, ausgediente Finken. Trotzdem musste ich gut darauf achten, wo ich hintrat. Besonders heimtückisch waren die Lücken und Vertiefungen zwischen den einzelnen grösseren Kieselsteinen. Und ganz besonders die vom Wasser bedeckten Steine waren rutschig, auch wenn sie keine grüne Algenschicht aufwiesen. Es war oft ein richtiger Balance-Akt mit seitlich ausgestreckten Armen, über die Kieselsteine. Wenn ich durchs Wasser schritt, wirbelte ich sozusagen bei jedem Schritt etwas Sand auf, der sich zwischen den Kieselsteinen abgelagert hatte. Der aufgewirbelte Sand platzierte sich dann frech in meinen Finken, sodass ich sie regelmässig ausziehen und vom Sand befreien musste.
Murielle Rufus: Da du dich an so viele Einzelheiten erinnern kannst, geben dir diese Erlebnisse auch heute noch sehr viel Kraft. Das ist auch der Grund, weshalb ich dir so viele Fragen gestellt habe. Du bist tief in diese Erlebnisse eingetaucht und hast ihre Kraft freigesetzt.
Ich: Beim Erzählen habe ich diese Kraft in meinem Körper deutlich gespürt.
Murielle Rufus: Wunderbar!
Ich: Danke, Murielle Rufus!
Murielle Rufus: Gerne, gerne!
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Eine weitere Schweigepause.
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Murielle Rufus: Welche Talente und Fähigkeiten hattest du schon als Kind?
Ich: Na schön! Wenn du unbedingt darauf bestehst!
Murielle Rufus: Ich bestehe unbedingt darauf!
Ich: Ich habe schon mit 6 Jahren von meiner Mutter Stricken und Häkeln gelernt. Mit 6 Jahren habe ich meine erste Weste gestrickt. Natürlich nur mit rechten Maschen. Kraus recht nennt man das im Fachjargon. Ich habe mir schon als Kind alle Pullover selber gestrickt. Ich war auch in der Lage, komplizierte Muster fehlerfrei zu stricken. – Das hört sich so schrecklich prahlerisch an!
Murielle Rufus: Nein! Es entspricht der Wahrheit. Es ist ein grosses Talent von dir! – Weiter! Was noch!
Ich: Wenn du meinst!
Murielle Rufus: Ja, ich meine!
Ich: Ich konnte schon mit 6 Jahren Blockflöte spielen. Lieder, die ich üben musste, konnte ich schnelle auswendig spielen. In den Schulferien, wenn ich keinen Instrumentalunterricht hatte und mich die Lieder oder Stücke gelangweilt haben, habe ich mir Musikstücke auf Tonbandkassetten angehört und die Hauptmelodie oder die Solostelle nachgespielt. – Aber jetzt reicht es! Jetzt habe ich mich genug ins Rampenlicht gestellt! Alle Menschen habe schliesslich besondere Talente!
Murielle Rufus: Natürlich! Es geht jedoch darum, dass du deine Talente als Talente erkennst, sie anerkennst und wertschätzt. Es besteht überhaupt kein Grund, sich dafür zu schämen oder sich zu verstecken!
Ich: Ich stehe nun einmal sehr ungern im Rampenlicht! Ich fühle mich dann so nackt, so ausgestellt!
Murielle Rufus: Das hat mit deiner Versagensangst zu tun. Deshalb spielst du nur auswendig, wenn du alleine bist. Deshalb singst du nur unter der Dusche.
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Die Feuerkatze erhebt sich und schmiegt ihren Körper an meine linke Schulter. Der buschige Schwanz streichelt meine Wangen. Das Schnurren hat eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich hoffe, dass auf unserer Reise durch die Raunächte keine weiteren Fragen zu meinen Talenten mehr auftauchen!
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Murielle Rufus: Was hat dir als Kind am meisten Freude bereitet?
Ich: Im Winter die Vögel am Futterplatz zu beobachten. Ich liebe das noch heute. Seit ich in diesem Haus wohne, füttere ich die Vögel im Winter und auch in den anderen Jahreszeiten, wenn sie es brauchen. Ich habe mehrere Futterplätze rund ums Haus angelegt, damit alle Vögel zum Zug kommen, ohne Kampf. Wenn Schnee liegt versammeln sich über hundert Singvögel auf meinem Grundstück. Kohlmeise, Blaumeise, Rotkehlchen, Sperling, Amsel, Buchfink und sogar Elster und Eichelhäher.
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Der buschige Schwanz der roten Feuerkatze schlägt rhythmisch auf die Tischplatte. Ich warte gespannt auf die nächste Frage.
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Murielle Rufus: Kommen wir nun zur Lektüre.
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Die rote Feuerkatze verlässt ihren Thron und schiebt mir das Schneekristallbuch zu. Im Buch steckt ein Lesezeichen. Es ragt oben und unten ein Stück aus dem Buch heraus. Ich greife mit der linken Hand an das oben herausragende Stück Lesezeichen und mit der rechten Hand an das untere Stück. Ich hebe das Buchzeichen an und öffne somit das Buch, ohne es anfassen zu müssen. Wieder ist eine Tarot-Karte abgebildet.
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Ich: Nummer 2 : Die Hohepriesterin
Murielle Rufus: Lies vor, was du geschrieben hast.
Ich: Die beiden gegensätzlichen Pole annehmen und den Wohlfühlbereich zwischen ihnen Polen ermitteln.
Murielle Rufus: Die Hohepriesterin steht aber auch für Verblendung und Illusion. Hier vor allem im Bezug auf deine Talente. Du verkennst deine Talente und unterliegst der Illusion, dass alle Menschen dieselben Talente besässen, wie du, und alles zehn Mal besser könnten als du.
Ich: Stimmt. Ich bemühe mich, diese Verblendung und Illusion abzulegen!
Murielle Rufus: Ich weiss! Deshalb setzen wir uns in diesem Gespräch damit auseinander. – Blättere nun die Seite um!
Ich: Wieder zwei Träume!
Murielle Rufus: Liess vor!
Ich: Traum 1: Ich befinde mich mit anderen Leuten, Erwachsenen und Kindern, in einem grossen Raum. Der ganze Boden wird von einem Bild aus Pixeln bedeckt. Da ich auf dem Bild stehe, sehe ich nur einen kleinen Ausschnitt des ganzen Bildes. Ich hätte gerne das ganze Bild gesehen.
Ein Mann greift nach einem Mikrophon und verkündet, dass in ein paar Minuten der Schwimmwettkampf beginnen würde. Ich frage mich, wo dieser Wettkampf stattfinden und wer daran teilnehmen wird. Der Mann beginnt die Teilnehmerliste vorzulesen. Zu meinem Erstaunen und Entsetzen nennt er auch meinen Namen, obwohl ich nie eine Anmeldung eingereicht habe.
Der Wettkampf findet in diesem Raum statt. Wo ist das Schwimmbecken? Die aufgerufenen Teilnehmer stellen sich in eine Reihe an einer der vier Wände. Alle Teilnehmer ausser mir, tragen einen Badeanzug. Ich habe keinen Badeanzug dabei und beschliesse, in den Kleidern anzutreten. Das ganze ist sowieso ein Witz. Wie schwimmt man ohne Wasser?
Der Mann mit dem Mikrophon gibt das Startzeichen. Die anderen Teilnehmer legen sich auf den Boden und robben oder kriechen auf allen Vieren los. Ich fühle, wie die Zuschauer ihren Blick auf mich heften. Sehr unangenehm. Also lege ich mich auf den Boden und mache Schwimmbewegungen, wie beim Brustschwimmen. Zu meinem Erstaunen komme ich tatsächlich voran, wie wenn ich in Wasser schwimmen würde. Die anderen Teilnehmer haben schon den halben Raum umrundet. Einige nehmen Abkürzungen, ohne disqualifiziert zu werden. Was für ein Wettkampf soll das bitteschön sein?
Ich beschleunige meine Bewegungen. Ich komme kaum noch voran. Da ich sowieso die Letzte bin, kann ich es genausogut gemütlich nehmen. Ganz ausser Atem verlangsame ich meine Schwimmbewegungen, bis ich mich sozusagen nur noch wie in Zeitlupe bewege. Zu meinem Erstaunen geht es plötzlich flott voran. Ich hole auf und überhole andere Teilnehmer sogar. Sie versuchen mich einzuholen, indem sie sich schneller bewegen. Dies bewirkt nur, dass ich sie immer mehr anhänge. Je langsamer die Bewegungen, desto schneller komme ich voran. Schliesslich habe ich alle Teilnehmer überholt und treffe als Erste im Ziel ein. Die Zuschauer jubeln mir zu.
Murielle Rufus: Wie kann man ohne Wasser schwimmen? Wie kann ein Boot ohne Wasser fahren?
Ich: In Träumen ist alles möglich! Offenbar ist diese Bibliothek auch eine Art Traumland.
Murielle Rufus: Eine von dir erschaffene Realität.
Ich: Du meinst eine Fantasiewelt!
Murielle Rufus: Eine Fantasiewelt und eine Traumwelt sind nur zwei andere Namen für Realität. Der Mensch nennt die Welt, in der er im Wachbewusstsein lebt, Realität, weil er sich daran am besten erinnert und sich die meiste Zeit darin aufhält. Dir wurde beigebracht, dass man nur im Wasser schwimmen kann und Boote sich nur im Wasser fortbewegen können! Im Traum und in dieser Bibliothek können sie sich aber auch ohne Wasser fortbewegen!
Ich: Tja, die verschiedenen Realitäten! Auch so ein Thema ...
Murielle Rufus: Und deine Deutung?
Ich: Der Schwimmwettkampf könnte ein Symbol für Situationen sein, in die ich hineingedrängt werde, ohne zu wissen worum es geht. Ich lasse mich darauf ein und finde die Regeln heraus. Ich gehe sogar als Sieger hervor.
Eile mit Weile. Wie in der Niemalsgasse bei Momo. Je langsamer sie geht, desto schneller kommt sie voran. Der Weg ist das Ziel. Wenn ich langsam gehe, habe ich Zeit, mich umzuschauen. Und plötzlich bin ich am Ziel, ohne ausser Atem zu sein.
Murielle Rufus: Lies den zweiten Traum vor!
Ich: Traum 2: Ich befinde mich in einem Güterbahnwagen eines Zuges. Ich bin alleine in diesem Wagen. Die Wände sind transparent, sodass ich zum vorderen Wagen sehen kann. Der Zug fährt sehr schnell. Der Güterbahnwagen vor mir entgleist zwei Mal beinahe in einer Kurve. In einer weiteren Kurve löst sich mein Wagen vom vorderen Wagen. Der Abstand zum vorderen Wagen wird immer grösser. Ich überlege, wie ich meinen Wagen und somit den abgehängten Rest des Zuges stoppen könnte. Plötzlich tauchen auf den Schienen mehrere Männer auf. Sie haben Stangen und andere Werkzeuge in der Hand, um den abgehängten Teil des Zuges zu stoppen.
Als mein Wagen steht, steige ich aus. Zu meinem Erstaunen steht der vordere Teil des Zuges nur ein paar Meter von meinem Wagen entfernt. Ich eile zum hintersten Wagen des vorderen Teils des Zuges. Das Fahrgestell besteht aus Metall, der Rest des Wagens aus Holz. Der Wagen hat kein Dach. Ich klettere an der Holzwand hinauf und schaue über den Rand in den Wagen hinein. Es befinden sich ziemlich viele Leute in diesem Bahnwagen. Sie stehen in Gruppen zusammen und unterhalten sich angeregt, ohne mich zu bemerken.
Nur eine Frau bemerkt mich. Sie löst sich aus ihrer Gruppe und kommt auf mich zu. Nach ein paar Schritten bleibt sie stehen und wirft mir einen Schlüssel zu. Der Schlüssel knallt gegen die Holzwand und fällt zu Boden. Die Frau wendet sich ab und kehrt zu ihrer Gruppe zurück. Ich habe erwartet, dass sie mir den Schlüssel gibt. Stattdessen hat sie ihn mir nur vor die Füsse geworfen. Ich klettere über die Wand in den Wagen hinein und hebe den Schlüssel auf. Es ist ein ziemlich grosser und schwerer Schlüssel. Was sich damit wohl öffnen lässt? Ich stecke ihn in die Jackentasche und klettere wieder aus dem Wagen.
Murielle Rufus: Und deine Deutung?
Ich: Zug: mein Leben
abgehängter Wagen, Teil des Zuges: mein Leben rast dahin, da jemand anderer am Steuer sitzt. Als mein Leben zu entgleisen droht, löst sich mein Wagen vom Rest des Zuges. Ich versuche den Zug zu stoppen, da es mir zu schnell geht.
Männer: könnten geistige Helfer symbolisieren, die mein Leben sozusagen verlangsamen, sodass ich eine kurze Rast einlegen kann, bevor es weitergeht.
Schlüssel: Ich erhalte immer wieder Dinge im Leben, die ich mir zwar selber holen muss, erarbeiten muss. Oft erkenne ich erst später, wozu sie dienen.
Frau: könnte menschliche Helfer symbolisieren, die unerwartet auftauchen.
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Liebe Grüsse
Pia
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Lieber Attila und Interessierte
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Kapitel 5: Die 5. Raunacht
Kurz bevor ich an die Stelle gelange, wo ich querwaldein gehen muss, stosse ich auf einen auf dem Waldweg stehenden Pferde-Schlitten. Der Schlitten ist im Weiss des Schnees kaum zu sehen. Je näher ich dem Schlitten komme, desto grösser wird die Sehnsucht, in diesen Schlitten zu steigen und mit ihm durch den verschneiten Märchenwald zu fahren.
Plötzlich taucht auf dem Kutschbock eine rote Gestalt auf.
Die rote Feuerkatze!
Mein Herz hüpft vor Freunde! Ich beschleunige meine Schritte.
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Murielle Rufus: Und? Was sagst du jetzt?
Ich: Toll! Ich bin begeistert! Danke, Murielle Rufus!
Murielle Rufus: Gerne, gerne! – Steig ein!
Ich: Gleich! Ich möchte nur kurz die Pferde begrüssen!
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Ich gehe am Schlitten vorbei zu den beiden Pferden und bleibe staunend neben ihnen stehen. Es sind keine gewöhnlichen Pferde! Das Fell der beiden Pferde besteht aus transparenten Eiszapfen-Haaren. Die Mähne und der Schweif bestehen ebenfalls aus Eiszapfen-Haaren, nur gröber und grösser als die Mini-Eiszapfen, ja fast Mikro-Eiszapfen, des Fells. Sonnenstrahlen durchstossen den Hochnebel und berühren die Pferdekörper. Sie beginnen zu funkeln und zu glitzern. Die dabei entstehenden Farben werden auf den am Boden liegenden Schnee projiziert. Was für ein herrliches und betörendes Schauspiel.
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Murielle Rufus: Streichle sie ruhig!
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Ich trete näher an den Kopf des linken Eiszapfen-Pferdes heran und strecke sie Hand langsam in Richtung Nüstern aus. Das Pferd streckt mir den Kopf entgegen. Zu meinem grossen Erstaunen fühlen sich die Nüstern warm und weich an, wie bei einem gewöhnlichen Pferd! Ich trete näher an das Pferd heran und streiche ihm sachte über die Stirn. Auch die Stirn fühlt sich wie bei einem gewöhnlichen Pferd an! Nun streiche ich dem Pferd mit der rechten Hand durch die Mähne. Ein wohlklingendes Glockenspiel, verursacht durch die aneinanderstossenden Eiszapfen-Haare, ertönt. Dieses Glockenspiel schlägt mich richtig in seinen Bann. Meine Hand streicht ganz automatisch durch die Eiszapfen-Mähne.
Das Scharren mit dem Vorderhuf und das Schnauben des zweiten Pferdes brechen diesen Bann. Ich trete an das zweite Pferd heran. Es streckt sogleich den Kopf vor und stupst mich mit seinen weichen Nüstern gegen die Brust. Ich streiche auch ihm erst über die Stirn und dann durch die Eiszapfen-Mähne. Wieder ertönt ein feines Glockenspiel, aber viel höher als beim ersten Pferd. Faszinierend! Ich trete nun vor die beiden Pferde, sodass ich mit der rechten Hand durch die Eiszapfen-Mähne des ersten Pferde und mit der linken Hand durch die Eiszapfen-Mähne der zweiten Pferdes streichen kann. Die Klänge der beiden Eiszapfen-Mähnen sind tatsächlich aufeinander abgestimmt! Wie wunderbar! Ich hätte ewig durch die beiden Eiszapfen-Mähnen streichen können! Ich muss mich richtig losreissen.
Die rote Feuerkatze liegt zusammengerollt auf dem Kutschbock und scheint zu schlafen. Erst jetzt fällt mir auf, dass auch der Schlitten aus unzähligen verschieden grossen und verschieden geformten Eiszapfen besteht. Die Einen sind gebogen. Andere sind gerade und abgeplattet. Andere sind rund und laufen in eine Spitze aus, so ähnlich wie eine Nadel. Wieder andere sind wie Locken gedreht und bilden die Verzierung. Der Schlitten lädt zum stundenlangen Betrachten ein.
Ich reisse meinen Blick los, steige in den Schlitten und nehme Platz. Murielle Rufus richtet sich auf, streckt sich nach Katzenart, springt mir ohne Vorwarnung auf den Schoss, rollt sich zusammen und beginnt zu schnurren. Die beiden Pferde setzen sich in Bewegung. Sie brauchen offenbar keinen Kutscher, der sie lenkt. Sie tragen auch kein Fahrgeschirr! Wie sie wohl mit dem Schlitten verbunden sind? Das liebliche Glockenspiel der beiden Eiszapfen-Mähnen ertönt.
Die beiden Pferde biegen rechts in der Wald ab und wählen den Weg so, dass der Schlitten problemlos zwischen den Bäumen hindurchpasst. Die Pferde traben an. Ich geniesse die Schlittenfahrt!
Plötzlich taucht vor uns eine mehrere Meter hohe Schneewehe auf. Sie zieht sich quer durch den Wald und verliert sich auf beiden Seiten im Weiss des Schnees. Der Schneesturm hat diese Schneewehe aufgetürmt. Die beiden Pferde traben unbeirrt direkt auf die Schneewehe zu. Ob sie sie übersehen haben? Soll ich die rote Feuerkatze darauf aufmerksam machen?
Mittlerweile sind die beiden Pferde schon dicht an die Schneewehe herangerückt und machen immer noch keine Anstalten, rechts oder links abzubiegen. Zu meinem Erstaunen beginnt sich die Schneewehe zu teilen, sodass ein Durchgang quer durch die Wehe entsteht, wie eine Klus im Gebirge. Sobald der Pferde-Schlitten den Durchgang passiert hat, werfe ich einen Blick nach hinten. Die beiden Hälften der Schneewehe schieben sich wieder zusammen!
Weiter geht es durch den Märchenwald. Die nächste Schneewehe ist bereits in Sicht. Die beiden Pferde nehmen wieder Kurs auf die Schneewehe. Sie traben mit konstanter Geschwindigkeit auf die Wehe zu. Ich befürchte schon, dass sie mit ihr zusammenstossen, als sich sozusagen in letzter Sekunde ein Eis-Rolltor öffnet. Hinter dem Rolltor befindet sich ein Eistunnel. Im Tunnel ist es hell, obwohl nirgend eine Lampe zu sehen ist. Das Licht bricht sich in den Eiswänden. Es zaubert die schönsten Farben hervor.
Auf der anderen Seite des Eistunnels fährt wieder ein Rolltor hoch und entlässt uns in den Märchenwald. Kurze Zeit später taucht die Zaubereiche auf. Ihre Äste sind wieder belaubt und mit Schnee bedeckt. Die beiden Pferde halten in unverändertem Tempo auf den mächtigen Stamm der Zaubereiche zu. Sie machen keinerlei Anstalten, vor dem Stamm zu stoppen. Und schon befinden wir uns in der Bibliothek.
Zu meinem Erstaunen geht die Schlittenfahrt in der Bibliothek weiter. Die beiden Pferde und der Schlitten haben sich sozusagen verwandelt, und zwar in zwei Schimmel und in eine weisse Königskutsche. Die Kutschfahrt zum Tisch dauert eine ganze Weile. Ich geniesse jede Minute in vollen Zügen!
Murielle Rufus springt von meinem Schoss mit einem gewaltigen Sprung direkt auf die Tischplatte. Ich steige aus, gehe zu den beiden Pferden und streiche ihnen über die Stirn und noch einmal durch die jetzt seidige, weisse Mähne. Dann trete ich zur Seite. Die Pferde setzen sich in Bewegung. Ich schaue der Kutsche nach, bis sie zwischen den Regalen verschwunden ist.
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Murielle Rufus: Und? Wie hat dir die Schlittenfahrt gefallen?
Ich: Es war eine wunderbare Fahrt! Ich war im siebten Himmel!
Murielle Rufus: Genau das habe ich beabsichtigt!
Ich: Danke, Murielle Rufus!
Murielle Rufus: Gerne, gerne! – Das Thema der fünften Raunacht ist Entwicklung und Verbindung.
Ich: Da bin ich mal gespannt, was für Fragen du mir stellst ...
Murielle Rufus: Welche Eigenschaften an anderen bewunderst du besonders?
Ich: Ich bewundere Lebensberater, die immer wissen, welche Antwort sie auf die Frage des Klienten geben müssen, welche Frage sie als nächstes stellen müssen, um das Gespräch am Laufen zu halten und in die gewünschte Richtung zu lenken.
Murielle Rufus: Und welche Eigenschaft noch?
Ich: Lehrpersonen, die eine natürliche Autorität haben und dadurch eine Klasse mit Leichtigkeit zu führen vermögen.
Murielle Rufus: Und welche noch?
Ich: Menschen, die sofort auf Fremde zugehen und mit ihnen ein Gespräch beginnen.
Murielle Rufus: Und wo findest du diese auch in dir?
Ich: Mir fehlen diese Eigenschaften!
Murielle Rufus: Nein! Denn was du an anderen bewunderst, ist auch in dir vorhanden. Diese Eigenschaften möchten auch von dir gelebt werden. Sie schlummern tief in dir drin und warten darauf, dass sie endlich aufwachen dürfen.
Ich: Bei der Bildbesprechung in der Kunsttherapie-Ausbildung bin ich immer stecken geblieben, wenn ich die Rolle der Therapeutin inne hatte. Ich hatte keine Ahnung, welche Antwort ich geben, oder welche Frage ich stellen sollte.
Murielle Rufus: Doch, du wusstest es! Du hattest nur Angst, etwas Falsches zu sagen. Du hattest Angst, dass deine Fragen zu persönlich oder gar verletzend sein könnten.
Ich: Mag sein.
Murielle Rufus: Es ist so. Denk darüber nach!
Ich: Die natürliche Autorität fehlt mir aber. Mir fällt es nämlich sehr schwer, eine Klasse zu führen! Deshalb macht mir Unterrichten auch keinen Spass! Deshalb habe ich auch das Gefühl, im falschen Beruf zu sein!
Murielle Rufus: Jeder Mensch hat eine natürliche Autorität! Deine natürliche Autorität liegt nur tief vergraben. Sie wurde in deiner Kindheit durch unerfreuliche Erlebnisse immer mehr und mehr verschüttet. Die Klassenführung scheitert daran, dass du in die Rolle des Schülers fällst. Du stellst alle Menschen, denen du begegnest, egal ob Erwachsene oder Kinder, immer sofort über dich, sozusagen auf ein Podest. Deshalb fällt es dir auch sehr schwer auf andere Menschen zuzugehen, sie anzusprechen. Du hast gelernt, dass Kinder zu warten haben, bis die Erwachsenen ihr Gespräch beendet haben. Du hast gelernt, dass Kinder zurückhaltend, still, höflich … zu sein haben. Man könnte auch sagen, du hast gelernt, dass Kinder unsichtbar zu sein haben. Und genau in diese Rolle fällst du, wenn du anderen Menschen begegnest.
Ich: Ganz schön hart.
Murielle Rufus: Die Wahrheit ist immer hart, Pia Ursula. Schönreden bringt dich jedoch keinen Schritt weiter.
Ich: Das ist mir schon klar.
Murielle Rufus: Dann sind wir uns ja einig.
Ich: Und was kann ich dagegen tun?
Murielle Rufus: Jetzt benutzt du wieder das Wort „dagegen“!
Ich: Ich meinte: Wie kann ich vorgehen?
Murielle Rufus: Der erste Schritt ist immer zu akzeptieren, dass es im Moment so ist. Der zweite Schritt besteht darin, ganz bewusst zu bemerken, wenn du in diese Rolle fällst. Der dritte Schritt: Sage innerlich sofort „stopp“! Ich bin kein Kind mehr! Ich bin eine mündige Erwachsene! Dann stellst du dich ebenfalls aufs Podest! Der vierte Schritt: Hab Geduld mit dir! Vermeide es, dich zu verurteilen, wenn du in diese Rolle fällst. Das ist ganz wichtig. Es ist ein Prozess, der lange dauern kann! Gib dir diese Zeit! Nur dann kann wirkliche Heilung stattfinden!
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Eine längere Schweigepause tritt ein. Ich fühle mich leer, machtlos, erschöpft.
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Murielle Rufus: Welche deiner Freundschaften möchtest du vertiefen?
Ich: Die Freundschaft mit Karin und Sophie.
Murielle Rufus: Wie könntest du den ersten Schritt dazu tun?
Ich: Ich möchte mich häufiger, regelmässiger mit ihnen zu einem Gespräch treffen oder mit ihnen eine Bahnreise durch die Schweiz unternehmen.
Murielle Rufus: Welche Beziehungen nähren deine Seele wirklich?
Ich: Meine Beziehung zur Natur, zu Tieren, Pflanzen, zum Schreiben, zur Kunst und zu den oben erwähnten Freundinnen.
Murielle Rufus: Kommen wir zur Lektüre.
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Die rote Feuerkatze schiebt mir wieder das Schneekristall-Buch zu. Es öffnet sich von selbst an der richtigen Stelle, ohne Umblätter-Show-Einlage.
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Ich: Nummer 15: Der Teufel.
Murielle Rufus: Lies vor, was du geschrieben hast.
Ich: Die verführerischen und tückischen Ablenkungen erkennen, die mich von meinem Ziel wegführen wollen.
Murielle Rufus: Der Teufel hält jedoch auch dein Selbstbild von dir aufrecht. Er möchte, dass du in der Rolle des Kindes bleibst. Deshalb ist es sehr wichtig, dass du dich genau beobachtest.
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Eine kurze Schweigepause tritt ein.
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Ich: Dieses Mal ist nur ein Traum!
Murielle Rufus: Lies vor!
Ich: Traum: Meine Mutter fährt ein Moped. Ich sitze mit dem Rücken zur Fahrtrichtung auf dem Gepäckträger, meine Beine von mir gestreckt, wie auf einem Stuhl. Ich trage Stulpen. Meine Schuhe schleifen auf der Strasse. Der linke Stulpe rutscht über den Schuh und streift sich ab. Er bleibt mitten auf der Strasse liegen. Ich lasse es geschehen und schaue auf den zurückbleibenden Stulpen, bis er ausser Sichtweite ist. Ich versuche vergeblich, ihn mit meinen Gedanken zu mir zu rufen.
Als meine Mutter an einer Kreuzung anhalten muss, springe ich kurzerhand ab. Ich will den verlorenen Stulpen holen. Zuerst gehe ich auf der Strasse. Als ich meine Mutter mit dem Moped kommen sehe, weiche ich in die angrenzende Wiese aus. Das Gras ist zuerst nur kurz, wird aber sozusagen mit jedem Schritt, den ich mache, höher und dichter. Das Gras wird mehr und mehr von Raps abgelöst. Ich kämpfe mich durch das Rapsfeld. Meine Mutter ist mir schon dicht auf den Fersen. Das Raps wird von noch dichter stehendem Getreide abgelöst. Es handelt sich um mannshohen Roggen. Ich komme kaum noch voran. Meine Mutter holt mich immer mehr ein. Der Roggen wird von mir bis zu der Brust reichenden Spaghetti abgelöst. Sie stehen so dicht, dass ich darin stecken bleibe. Ich drücke mit aller Kraft gegen die noch ungekochten Spaghetti. Sie geben etwas nach, sodass ich wieder voran komme. Ich kämpfe mich in Richtung Strasse durch die Spaghetti. Meine Mutter bleibt etwas zurück.
Sie ruft mir zu: "Seit meinem Tod bist du komisch!"
Murielle Rufus: Und deine Deutung?
Ich: Die Fahrt auf dem Moped könnte mein Leben bis zum Tod meiner Mutter symbolisieren. Der Stulpe könnte Dinge symbolisieren, die mir viel bedeutet habe, die ich aber zurücklassen musste. Er könnte auch Tätigkeiten symbolisieren, für die mir keine Zeit gelassen wurde, die keinen Platz in meinem Leben hatten, obwohl ich sie liebte. Gras, Raps, Roggen, Spaghetti könnte schwierige Situationen, Glaubenssätze, Überzeugungen symbolisieren, die mich am Vorankommen hindern. Der Zuruf meiner Mutter. Sie möchte, dass ich so bleibe, wie ich war, als sie noch lebte.
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Liebe Grüsse
Pia
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