Lieber Attila und Interessierte
I
In diesem Kurs möchte ich mich mit einem Hemmnis auf dem Weg in die Freiheit ganz besonders befassen. Ich habe noch keinen passenden Namen für dieses Hemmnis gefunden.
I
Als Pferde-Fan/Pferde-Liebhaber schaue ich mir auf YouTube hin und wieder Pferde-Videos an. Ich bin dabei auf eine Pferde-Therapeutin gestossen, die sich mit Problempferden befasst. Sie hat eine 13 jährige Tochter. Sie hilft ihrer Mutter und ist sozusagen deren Assistentin. Sie versteht in ihren jungen Jahren sehr viel von Pferden und kann mit und ohne Sattel hervorragend reiten. Für diese 13-Jährige ist es das Normalste der Welt, jede freie Minute mit Pferden zu verbringen. Sie kennt nur diese Welt, die eigentlich die Welt ihrer Mutter ist. Wenn die Berufung der 13-Jährigen in der Welt ihrer Mutter liegt, sind natürlich alle Voraussetzungen für einen günstigen Start in die Berufung gegeben. Was aber, wenn ihre Berufung ausserhalb der Welt ihrer Mutter liegt?
I
Auch ich (und jedes andere Kind) wurde in die Welt meiner Eltern (vor allem in der Welt meiner Mutter) hineingeboren. Für mich wurde diese Welt immer mehr zu meiner Welt. Auch der Lehrer-Beruf (mein Brot-Job) wurde immer mehr zu meiner Welt. Für mich war (und ist es noch immer) sehr schwierig, mir vorzustellen, dass es da noch die Welt meiner Berufung gibt, sozusagen meine eigene Welt: Schriftstellerei, Kunst.
I
Als Kind hielt ich mich schon in jungen Jahren jede freie Minute in der Welt meiner Geschichten auf. Von meiner Mutter wurde dies als kindliche Fantasie abgetan, der man keine weitere Beachtung zu schenken hatte.
Ich war schon als Kind in der Lage, fehlerfrei komplexe Strickmuster zu stricken. Im Kindergarten-Alter (6 jährig) habe ich meine erste Weste gestrickt. In meiner Freizeit hatte ich jedoch immer nur wenig Zeit für meine Kreativ-Projekte. Meine Mutter hatte immer irgend eine Aufgabe oder Arbeit für mich zur Hand. Wenn sie mich rief, musste ich alles stehen und liegen lassen und augenblicklich auf der Bildfläche erscheinen, sonst wurde sie ärgerlich und hat mir eine Moralpredigt gehalten. Es hat sie nie interessiert, ob sie mich aus einem Kreativ-Prozess herausriss, wenn sie mich rief.
Für meine Mutter standen meine Hausaufgaben für die Schule immer an erster Stelle. Nach dem Motto: Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen (falls dann noch Zeit dafür blieb). Sie kam immer sporadisch in mein Kinderzimmer und hat mich kontrolliert. Das hat sie sogar noch getan, als ich nach der Lehrerausbildung unterrichtet habe, und als ich an der Uni studiert habe. Wenn sie mich dabei erwischt hat, dass ich einen Roman las, anstatt zu lernen, sagte sie: "Jetzt liest du immer noch! Wann willst du endlich anfangen zu lernen?" So habe ich angefangen, immer nur heimlich zu lesen und zu schreiben. Wenn ich hörte, dass meine Mutter die Treppe heraufkam, habe ich das Buch in einer Schublade verschwinden lassen und so getan, als würde ich lernen. Das Stricken, Häkeln, Nähen ... und das Malen, Zeichnen ... habe ich ganz bleiben lassen. Es machte mir keinen Spass mehr.
I
Meine Mutter ist Anfang März 2019 gestorben. Eigentlich müsste ich ja jetzt frei sein. Doch ich gebe mir selber immer noch keine Erlaubnis in meiner Freizeit zu Schreiben und künstlerisch Tätig zu sein. Mein Drang zu schreiben und mich künstlerisch auszudrücken, ist gewaltig. Ich habe auch viele Ideen. Meine Projekte, die ich gerne umsetzen möchte, sind jedoch sehr komplex und zeitaufwendig.
I
Zwei Beispiele:
Beispiel 1: Jogging-Hose nähen
Für eine geübte Handarbeitslehrerin eine einfache Angelegenheit, da man nur 4 Stück Stoff zusammennähen muss. Für meine Schüler mag dies angehen. Doch ich habe an mich selbst ganz andere Ansprüche. Nur 4 Stück Stoff zusammennähen, ist für mich zu billig und zu trivial. Ein Streifen-Muster schwirrte mir im Kopf herum.
Jede Hose besteht aus einer Vorderhose und einer Hinterhose und aus einer rechten und linken Seite = 4 Teile. Da es sich um eine Jogging-Hose handelt, habe ich dasselbe Schnittmuster benutzt, das auch meine Schülerinnen benutzen. Ich habe lediglich die Beinlänge angepasst. Das Streifenmuster umfasst pro Bein 11 Streifen. Das heisst, insgesamt 44 Streifen. Natürlich müssen die Streifen an den Innen- und Aussennähten der Hosenbeine zusammenpassen (mein Perfektionismus verlangt dies). Da die Vorder-Hose und die Hinter-Hose etwas anders geschnitten ist, musste ich das Streifenmuster entsprechend konstruieren.
Stoff zuschneiden: muss sehr exakt sein, damit das Streifenmuster an den Seitennähten zusammenpasst. Jearsy-Stoff ist stark dehnbar, da er gestrickt ist. Das Zuschneiden ist sehr anspruchsvoll. Auch das Zusammennähen ist sehr anspruchsvoll, da sich der Stoff gerne verzieht.
I
Wo liegt jetzt mein Problem?
Ich habe von mir verlangt, dass ich dieses Projekt in zwei Tagen beendet habe. Völlig unrealistisch! Ich habe mit dem Projekt begonnen. Als ich mir jedoch eingestehen musste, dass ich es unmöglich schaffen kann, habe ich es frustriert auf Eis gelegt.
I
Beispiel 2: Badetuch-Applikation
Im Kreativ-Ausdruck bei der Enneagramm-Session zu Typ 5-7 habe ich einen Drachen-Kopf gezeichnet. Plötzlich kam mir die Idee, diesen Drachenkopf mit Frotteé-Stoff als Bild auf ein Badetuch (150 cm x 200 cm) zu applizieren (aufnähen). Ich habe den Drachenkopf auf dem Lichtpult etwas vereinfacht abgepaust und ihn in der Schule mit dem Kopierer entsprechend vergrössert. Ich habe mir auch Frottée-Stoff besorgt.
I
Wo liegt hier das Problem?
Ich habe von mir verlangt, dieses Projekt in den zwei Ferien-Wochen hinzukriegen. Wieder völlig unrealistisch! Der Drachenkopf besteht aus mehr als 200 Teilen! Es braucht viel Vorbereitungsarbeit: Nummerieren der Teile, ausschneiden der Teile, zuschneiden des Stoffes (sehr anspruchsvoll, da sich Frottée-Stoff verzeiht), aufstecken und von Hand mit Faden Teile provisorisch auf dem Badetuch festnähen, Teile mit der Nähmaschine festnähen. In zwei Wochen unmöglich zu schaffen! Also habe ich auch dieses Projekt auf Eis gelegt (und schon viele andere zuvor).
I
I
Herangehensweise
Ich hatte vom 3.2. bis 18.2. Schulferien.
Ich habe das Projekt Jogging-Hose wieder aufgegriffen.
In der ersten Woche wurden die Gefühle (Trauer, Schuld, Scham, Leere, Sinnlosigkeit, Sehnsucht ...) jedes Mal, wenn ich an der Jogging-Hose gearbeitet habe, so stark, dass ich nach einer Stunde abbrechen musste. Ich habe mich dann mit YouTube-Filmen und anderen Arbeiten abgelenkt.
In der zweiten Woche waren diese Gefühle nach wie vor da. Sie zogen jedoch nach einiger Zeit weiter, als ich trotzdem weiter genäht habe. Ich konnte mehrere Stunden daran arbeiten. Zwischendurch hat es mir sogar Spass gemacht. Ich kam gut voran. Jedes der 4 Hosenteile besteht jetzt nur noch aus zwei Teilen.
I
I
Fazit
Nähprojekte kann ich auf diese Weise hinkriegen, auch wenn es sehr anstrengend ist und keinen wirklichen Spass macht.
Zeichnen und Malen könnte auch funktionieren
Schreiben kann ich vergessen! Ich muss mich ja in meine Geschichte hineinfühlen können. Sonst schreibe ich nur über meine aktuellen Gefühle!
I
I
Fragen
Schaffe ich es jemals, mir die Erlaubnis fürs Schreiben und Kunst zu geben?
Schaffe ich es jemals, die Welt meiner Mutter zu verlassen und in meine eigene Welt einzutreten?
I
I
Liebe Grüsse
Pia